Dicht schmiegte ich mich an Konrad. Es tat gut, bei ihm zu sein. Wann spürt man die Liebe zum anderen mehr, als im stillen Beieinandersein? Mit leuchtendem Orangerot gefärbtem Himmel ging die Sonne unter. Der Tag glitt in die Dämmerung des Abends. Uns umgab eine Stimmung, in der man seinen Gedanken nachhing. Ich fühlte mich glücklich und unbeschwert und ließ meinen Träumen freien Lauf.
„Weißt du, Konrad, was ich mir wünsche?“, unterbrach ich unser Schweigen. „Ich wünsche mir – aber, lach' nicht! - ich wünsche mir einmal ein richtiges Haus mit Garten für uns. Ein Haus, dessen rotes Dach von weitem leuchtet und einen Garten, der viel größer ist als dieser hier, und in dem viele Rosen blühen.“
Konrad nahm einen tiefen Zug aus seiner Tabakpfeife. „Wäre es nicht vernünftiger, erst an eine Wohnung zu denken?“, fragte er.
„Sicher, Konrad. Aber die haben wir bestimmt bald ...“
„Wer weiß?“, unterbrach er mich. „Du scheinst ein Optimist zu sein.“
„Du nicht?“, staunte ich. Ich war überzeugt davon, jetzt, wo wir verheiratet waren, brauchten wir uns nur beim Wohnungsamt anzumelden, und nach einiger Zeit bekämen wir eine Wohnung zugewiesen. Schließlich könnten wir bald Kinder haben.
„Vielleicht würden wir leichter eine eigene Wohnung bekommen, wenn wir erst ein Kind hätten“, sprach ich meine Gedanken aus.
Konrad schwieg.
„Weißt du“, spann ich meinen Traum weiter, „ich möchte gern drei Kinder haben. Wenn wir dann ein Haus hätten mit einem richtigen Garten, könnten wir darin eine Buddelkiste und eine Schaukel für die Kinder aufstellen. Eine eigene Schaukel habe ich mir als Kind sehr gewünscht, aber nie bekommen. Wäre das nicht schön, wenn unsere Kinder eine hätten? Oder was meinst du?“
Auch dazu sagte Konrad nichts.
„Was ist? Hast du mir zugehört?“ Ich griff nach seiner Hand, beugte mich vor und sah ihn fragend an.
Konrad nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, ehe er fragte: „Sind dir Kinder wirklich so wichtig?“
Ich erschrak. „Wie kannst du das fragen?“
„Du bist noch sehr jung. Hast dir über die Kriegszeit hinaus Träume bewahrt.“
„Ja, aber …“
„Es ist der Krieg, Katrina!“ unterbrach er mich. „Der verändert alles. Das Geschehen an der Front kann dich nicht unberührt lassen, die ständige Gefahr und das Sterben der Kameraden, die vielleicht gerade Freunde geworden waren. Niemand hatte sie je vorher gefragt, ob sie ihr Leben einsetzen wollten. Du hast mit ansehen müssen, wie Menschen zu Tieren wurden, gepeitscht von der eigenen Angst, von der Gewalt, die sie vielleicht selbst erfahren mussten. Da ist es schwer, an das Gute im Menschen zu glauben. Bald denkst du, es kann überhaupt keine Zeit auf Erden ohne Kriege geben. Und in diese Welt werden Kinder geboren. Kann einem da nicht der Gedanke kommen, ob es nicht besser sei, keine Kinder in die Welt zu setzen, um ihnen dies zu ersparen?“
Mich fröstelte. Ich zog meine Hand zurück. Konrads Vergangenheit stand plötzlich zwischen uns, zwischen mir und all meinen Erwartungen.
„Und dann kommst du nach Hause“, redete er weiter. „Alles würdest du am liebsten hinter dir lassen und möglichst vergessen. Doch du stehst nur vor Trümmern. Keiner ist mehr da, der sich darüber freut, dass du überlebt hast. Da fragst du dich, warum du nicht gefallen bist wie die andern. Warum konnte nicht an meiner Stelle einer nach Hause kommen, um den jetzt geweint wird?“
„Konrad, und jetzt? So kannst du doch nicht mehr denken, oder?“, fragte ich ängstlich.
„Nein, Kleines, jetzt gibt es dich und mein Leben hat wieder einen Sinn.“ Sacht legte er seinen Arm um mich. „Nur, die Erlebnisse dieser Jahre kannst du nie ganz ablegen, sie haben dich geprägt.“
Ich schmiegte mich dichter an ihn, wusste nichts darauf zu antworten. Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach. Ein leichter Wind war aufgekommen und raschelte in den Zweigen.
Konrad nahm erneut einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, so dass der Tabak im Pfeifenkopf rot aufglühte und sprach weiter: „Manchmal denke ich, mein Vater könnte noch leben. Doch das ist wohl nur eine trügerische Hoffnung. Man hat mir versichert, von dem Trupp, mit dem er losgezogen sei, wären alle durch einem Volltreffer vernichtet worden. Das hätte keiner überleben können. Gelegenheit, dies zu prüfen, hatten sie allerdings nicht, da die Russen zugleich vorgerückt waren. Darum hat man meinen Vater für vermisst erklärt. So sollte ich eigentlich wissen, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Und dennoch! Als Vater vom letzten Urlaub an die Front zurückfuhr war er in einer schlimmen Verfassung gewesen. Mein kleiner Bruder, sechzehn Jahre alt, war gerade bei einem Bombenangriff als Flakhelfer in einem Vorort von Berlin umgekommen. Ich hatte daraufhin Heimaturlaub bekommen. Nie werde ich den Tag vergessen, als ich da nach Hause kam. Meine Mutter klammerte sich an mir fest und weinte hemmungslos. ‚Warum? Warum?’, schluchzte sie. Mein Vater konnte mich nicht ansehen. Er stand am Fenster und seine mageren Schultern zuckten unter dem Schluchzen, das ihn schüttelte. Ja, warum musste ein sechzehn Jahre alter Junge für diesen verdammten Krieg sterben. ‚Für Volk und Vaterland’, so hieß es damals. Mein Vater und ich, wir machten uns große Sorgen um meine Mutter, die wir ja allein lassen mussten in ihrem Schmerz. Ich glaube, das war es, was meinem Vater am schwersten fiel, als er wieder an die Front fuhr. Ich weiß nicht, ob er noch erfahren hat, dass eine Bombe mein Elternhaus und auch meine Mutter vernichtet hatte. Ich kann den Gedanken auch nicht ertragen, wie ihn das getroffen haben muss. Sein Schicksal wird sicher immer im Dunkeln für mich bleiben.“
Still saßen wir nebeneinander. Zum ersten Mal hatte er mir ausführlicher von sich und seiner Vergangenheit erzählt.
„So habe ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Eigentlich wissen wir bisher sehr wenig voneinander, Kleines“, fügte er nachdenklich hinzu.
Ja, er hatte Recht. Sicher war dies nur ein Bruchteil von Konrad und seiner Vergangenheit, die ich eben erfahren hatte. Und gab es nicht noch unendlich viel, was ich ihm von mir erzählen könnte? Wie konnte von uns einer wissen, wie der andere in einer bestimmten Situation reagieren würde? Wird es überhaupt möglich sein, den andern wirklich zu kennen, oder bleibt da immer etwas Fremdes, was man mitunter spürt? So, wie jetzt, da ich fröstelnd erkannte, wie viel Fremdes in Konrad sich für mich noch verbarg. Doch wir hatten unsere Liebe. Sie würde uns verbinden, darauf hoffte ich.
„Frierst du?“, riss mich Konrad aus meinen Gedanken, und es klang, als hätte er die traurige Nachdenklichkeit über seine Vergangenheit abgestreift. Er rüttelte mich sacht und zog mich fester an sich.
Ich aber wollte jetzt mehr von ihm wissen. „Du sagst immer, du hättest keinen Menschen mehr. Doch da ist doch deine Großmutter in West-Deutschland. Was ist mit ihr?“
Er lachte auf. Es war ein bitteres Lachen. „Ja, sie gibt es, im Allgäu, in Bayern. Großmutter soll eine harte Frau sein. Da ist auch noch eine Tante, Mutters jüngere Schwester mit ihrem Mann, einem Sohn und einer Tochter. Sie haben den großen reichen Bauernhof vom Großvater übernommen. Eigentlich sollte Mutter als älteste Tochter einen Bauern heiraten und ihn übernehmen. Da Großmutter aber Wert darauf legte, dass ihre Töchter nicht nur reich, sondern auch gebildet waren, schickte sie beide auf eine höhere Schule in der näheren Stadt. Nach dem ersten Weltkrieg ließ sie sogar Mutter zu Verwandten nach Berlin fahren, damit sie auch ein Stück von der Welt kennenlernen sollte. Hier begegnete sie meinem Vater und verliebte sich in ihn. So kam sie, statt mit einem Bauern, mit einem Stadtmenschen daher - auch noch mit einem Berliner, einem Preußen. Kannst du dir vorstellen, wie Großmutter darauf reagiert hat? Sie drohte meiner Mutter, nie wieder ein Wort mit ihr zu reden und sie zu enterben, wenn sie nach Berlin ginge, um ihn zu heiraten. Doch Mutter hat sich nicht beirren lassen, sie hat zu Vater gehalten und ist ihm gefolgt. Dann soll wirklich jeder Kontakt zwischen ihnen abgebrochen sein, bis zu dem Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin. Von da an gab es wenigstens zu Weihnachten und zu den Geburtstagen einen Gruß, mehr nicht. Ich war noch sehr klein, als wir einmal hingefahren sind. Meine Mutter suchte die Versöhnung. Doch es ging nicht, es blieb das einzige Mal, solange ich denken kann. Meine Erinnerung an meine Großmutter ist nicht sehr freundlich. Ich glaube, ich habe mich als kleines Kind vor ihr gefürchtet. Sie saß da, unnahbar in ihrem langen schwarzen Rock mit den streng nach hinten gekämmten Haaren, und musterte die Welt mit kalten grauen Augen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals einen Menschen liebevoll in den Arm nehmen könnte.“
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