Wilma Burk
Tauziehen am Myrtenkranz
Roman. Erstes Buch von: Heute ist alles anders als gestern - besser?
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Inhaltsverzeichnis
Titel Wilma Burk Tauziehen am Myrtenkranz Roman. Erstes Buch von: Heute ist alles anders als gestern - besser? Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Impressum neobooks
Wieder war ich in einer Situation, wie ich sie hasste. Ich fühlte mich allein und ratlos. Verdammt! Warum hatte mir Mama nicht beigebracht, meine Ellenbogen zu benutzen? Warum sollte ich ein anständiges Mädchen sein - wie sie es nannte -, das stets höflich zurücktrat und Verständnis für die Wünsche anderer hatte?
Hilflos rannte ich mit meinen schweren Taschen auf dem Bahnhof eines Vororts von Berlin an einem Zug entlang, mit dem ich zur Stadt zurückfahren wollte. Doch völlig überfüllt war der bereits in den Bahnhof eingefahren. Dabei waren im März 1948 die „Hamsterzüge“ eigentlich nicht mehr so hoffnungslos überfüllt wie in den ersten Jahren nach dem Krieg. Ja, vor einem Jahr noch, nach dem strengen Winter, da hingen die Menschen wie Trauben an den Zügen, aber inzwischen war es nicht mehr so schlimm. Nur das, was man auf Lebensmittelkarten zugeteilt bekam, reichte nicht zum satt werden. So fuhren die Berliner weiter aufs Land und besorgten sich bei den Bauern, was sie bekommen konnten.
*
Der zweite Weltkrieg war erst drei Jahre her. Die Stadt wirkte mit ihren Ruinen und Schutt in den Straßen verloren. Aber tot war sie nicht, das Leben pulsierte dazwischen weiter. Als Folge des verlorenen Krieges war Berlin eine geteilte Stadt. Deutschland war unter den vier Siegermächten, Amerika, England, Frankreich und der Sowjetunion, in vier von ihnen besetzte Zonen aufgeteilt worden und Berlin zugleich in vier Sektoren. Als es mehr und mehr zu Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten kam, wirkte sich das bald auch auf die Stadt aus. Die drei Westmächte schlossen sich mit ihren gemeinsamen Interessen in den drei Westsektoren zusammen und die Sowjetunion grenzte sich mit ihrem besetzten Ostsektor ab. Daraus entstanden bald West-Berlin und Ost-Berlin. Doch am Ende des Winters 1948 gab es noch keine Mauer und die Menschen strömten hinüber und herüber, wie sie wollten, auch in das Umland der Stadt.
Hunger herrschte in den Westsektoren ebenso wie in dem Ostsektor. Die Bauern in der Umgebung Berlins, die zur Ostzone der Sowjetunion gehörte, konnten sich kaum retten vor den hungrigen Städtern, besonders, wenn der Winter zu Ende ging.
Auch Mama hatte wieder geklagt, dass ihre Lebensmittelvorräte bedenklich zusammengeschrumpft waren. Was ja kein Wunder war, bei dem ständigen Appetit meines Bruders Bruno, meiner Schwester Traudel und sicher auch mir. Wie gut, dass wir zu den Glücklichen zählten, die eine Tante mit einem Bauernhof draußen im brandenburgischen Land hatten. Das ersparte uns, unseren Haushalt nach möglichen Dingen zu durchforschen, die man beim Bauern gegen Lebensmittel eintauschen könnte. Der Spruch: „Die Bauern würden ihre Kuhställe bald mit echten persischen Teppichen auslegen“, machte hinter vorgehaltener Hand bereits die Runde.
Diesmal war ich mit einer Hamsterfahrt zu Tante Luise an der Reihe. Mein Bruder Bruno hatte vor Kurzem erst einen Sack Kartoffeln von ihr angeschleppt und einige Zeit davor Mama Eier, Speck und mehr. Was Tante Luise eben so geben konnte.
Schon früh im Morgengrauen hatte ich mich an diesem Tag auf den Weg gemacht. Erst ging ich fast allein die verschlafenen Straßen entlang. Ich fand es gruselig, wie der Mond durch die Fensterhöhlen der Ruinen schien. Bald aber war es erst ein Mensch, dann noch einer, der vor mir oder hinter mir ging. Immer mehr strebten dem Bahnhof zu wie ich. Und alle hofften, am Abend mit ihren Rucksäcken oder Taschen, voll gefüllt mit Nahrungsmittel, wieder heimkehren zu können.
Bereits vor der Abfahrt in Berlin wurde am Morgen auf dem Bahnsteig gedrängelt, geschoben und geschubst, um in den Zug hineinzukommen. Höflich, wie ich erzogen war, ließ ich diesem und jenem den Vortritt und war schließlich froh, überhaupt hineingekommen zu sein. Ich hatte nicht erwartet, schon mit einem fast überfüllten Zug aus Berlin loszufahren. Beklommen fragte ich mich da bereits, wie es wohl am Abend bei der Heimfahrt sein würde.
Noch ahnte ich nicht, welche Bedeutung der Tag für mich haben sollte, als ich an diesem Morgen in einem Eisenbahnabteil zwischen den beiden Sitzreihen stand. Was heißt, stand? - Ich hing an einer Haltestange des Gepäcknetzes über den Sitzenden und drohte schwankend, bei jedem Ruck des Zuges, auf dem Schoß des Glücklichen vor mir zu landen, der gerade noch einen Sitzplatz erwischt hatte. Noch standen meine Taschen faltig und leer am Boden, und ich hoffte, dass Tante Luise sie wieder mit essbaren Schätzen füllen konnte. Mit meinen Füßen versuchte ich sie festzuhalten. Nein, ein Vergnügen war so eine Hamsterfahrt nicht.
Onkel Fred, Tante Luises Mann, holte mich mit einem Pferdefuhrwerk vom Bahnhof ab. Ich hörte bereits das Schnauben der Pferde, als ich mich zwischen eilig davon strebenden Menschen aus dem Bahnhof drängte. Wer außer mir wurde hier schon abgeholt? In alle Richtungen eilten die Menschen mit ihren leeren Rucksäcken und Taschen. Einige wussten inzwischen, wo sie etwas bekamen, viele aber wollten noch die Ersten sein, die einen Bauernhof erreichten, um vielleicht wenigstens Kartoffeln zu erhalten. Wenn so mancher wüsste, womit ich in meinen Taschen heimfuhr, der wäre sicher neidisch geworden.
„Na, Mädchen, ist bei euch wieder Not in der Speisekammer?“, rief mir Onkel Fred entgegen als ich aus dem Bahnhof trat. Breit saß er auf dem Kutschbock seines Ackerwagens, ein kerniger Bauer mit rotem von Wind und Wetter zerfurchtem Gesicht. Unter seiner warmen Schirmmütze mit den Ohrenklappen sah er mich mit seinen hellen gutmütigen Augen an. Das war schon viel, was Onkel Fred sagte. Redselig war er nie. Er erwartete auch keine Antwort. Aber fürsorglich legte er mir die Decke um die Beine, nachdem ich zu ihm auf den Kutschbock geklettert war. Das war gut bei der noch immer eisigen Kälte.
Onkel Fred hob die Peitsche, und mit einem „Hüh!“ setze er die Pferde in Trab. Langsam zogen wir an den Menschen vorüber, die ihres Weges gingen, von Bauernhof zu Bauernhof, in diesem Ort oder im nächsten. Vielleicht liefen einige auch zu einem weiter entfernten Ort, wobei sie hofften, viele würden sich den weiten Weg nicht machen, und so ihre Chance größer sein, dort etwas zu bekommen. Manch neidischer Blick traf mich im Vorbeifahren.
Bald hatten wir die Menschen zurückgelassen, und näherten uns dem Ort, der dort am Ende der Landstraße vor uns lag. Zeigte der Winter auch noch, was er konnte, so kündigte sich der Frühling bereits an. Die Vögel begannen ihr Lied zu singen, und die Bäume links und rechts der Chaussee wirkten nicht mehr so kalt und grau. Die Pferde dampften und schnaubten und zogen uns in ruhigem Trott die Straße entlang. Die weiße Schneedecke auf den weiten Feldern war dünn geworden, sie ließ hier und da braune Erde durchsehen. Einen würzigen Duft von fruchtbarem Boden brachte der Wind mit, der uns bei der Fahrt eisig in die Wangen kniff.
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