Um als leibliche Verwandte nicht tatenlos herumzustehen, lagerte die Großmutter Line auf ihrem besten Samtkissen noch weicher.
Inzwischen war auch die Hausbesitzerin, Frau Klemm, zur Stelle.
Aufgescheucht von dem ungewohnten Trubel in ihrem sonst eher ruhigen Haus, drängte sie sich neugierig an Lines Lager und sah sie dann doch sehr besorgt an.
„Sie klagt über Herzschmerzen“, hauchte die Großmutter bestürzt.
Frau Klemms Gesicht bestätigte, dass es hier eine Krise gab, die sie erfahrungsgemäß schnell in den Griff bekommen würde.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und wisperte:
„Ich bin gleich wieder da.“
Lines Hand lag indessen noch immer wie festgewachsen auf ihrer Brust.
Wo ihr Herz hinter den Knochen schlug, wusste sie nicht so genau, aber die Richtung schien zu stimmen. Sie hielt die Augen nicht ganz geschlossen und schaute durch den winzigen Spalt in das Gesicht ihrer Großmutter.
Und nun, nun machte sich Line Sorgen um sie.
Wie ernst und kummervoll die braunen Augen der Großmutter auf ihr ruhten.
Es schien sogar, als würden sie in Tränen schwimmen.
Doch Line genoss die Wichtigkeit um ihre Person sehr, wenn auch schon mit einem Anflug von Schuldgefühlen des jetzt unnötigen Gehabes wegen der Sache, von der nur sie wusste, dass sie nicht so war, wie sie schien.
Line signalisierte ihrer Großmutter jetzt mit einem leisen Stöhnen, dass dieser „Herzanfall“ der sie völlig unerwartet aus der Schulstunde gerissen hatte und sie nun geschwächt auf das Plüschsofa drückte, etwas ganz anderes war, als ihre sonstigen Ohnmachtsanfälle in ausweglosen „Situationen“, an die die Großmutter sich längst gewöhnt und aufgrund medizinischer Aufklärung, dass sie harmlos waren und sich mit der Zeit verwachsen würden, nicht mehr beachtet hatte.
Und da es für Line jetzt sowieso kein Zurück mehr gab, spielte sie ihre Rolle glaubwürdig weiter. Mit nun fest geschlossenen Augen „ruhte“ sie.
Frau Klemm kam zurück und huschte neben Lines Großmutter.
In ihrer Hand hielt sie ein kleines Glas, in dem eine schlammige Flüssigkeit schwappte.
Fleetwasser, das ist ja schmutziges Fleetwasser, dachte Line erschreckt.
Voller Stolz nickte Frau Klemm in das Gesicht der Großmutter und flüsterte:
„Rotwein mit Eigelb und Zucker, das hilft immer.“
Das kleine Glas wanderte nun wie ein Schatz aus Frau Klemms Hand in die Hand von Lines Großvater, der im Hintergrund auf seinen Einsatz gewartet hatte und die Frauen erst mal hatte machen lassen, so, wie er es gewohnt war.
Lines Großmutter dankte mit: „Ach, das ist aber wirklich rührend von ihnen.“
Der Großvater schob seine Hand unter Lines Rücken und richtete sie ein wenig auf, damit sie sich beim Trinken nicht verschlucken konnte.
Sie war schließlich völlig entkräftet.
Line öffnete nur wenig den Mund und trank leidend, mit geschlossenen Lidern und hängenden Armen den ersten Schluck Rotwein ihres Lebens.
Und das in der Erwartung, etwas ganz, ganz Köstliches zu bekommen und mit der zufriedenen Feststellung, dass sich das ganze Theater schon deshalb gelohnt hatte.
Doch über Lines Zunge ergoss sich etwas außerordentlich Widerliches.
So scheußlich schmeckte Rotwein?
Rotwein, den Rotkäppchen ihrer kranken Großmutter gebracht hatte?
Wie gemein vom Rotkäppchen, dachte Line.
Erneut hielt der Großvater ihr das kleine Glas an die Lippen.
Sie schluckte voller Ekel und verzog das Gesicht.
Das ist die gerechte Strafe, dachte sie, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Aber der Großvater gab nicht nach und sagte mit sanfter Stimme: „Trink, es sind nur noch wenige Schlucke, dann hast du es geschafft.“
Mit dem letzten Schluck trank Line sich in einen angenehmen Schwindel und ließ sich benommen in die Kissen fallen. Schon fest eingeschlafen, spürte sich nicht mehr, wie die Großmutter ihr sorgsam die braune Wolldecke bis an das Kinn zog und sie rechts und links so feststeckte, dass Line sich nicht hätte bewegen können, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Dr. Lenz wurde nicht gerufen, aber die Großmutter hatte nach Lines Mutter geschickt.
Die saß neben Line auf dem Sofarand, als sie nach einigen Stunden herrlichen Tiefschlafes die Augen aufschlug und sich wohlig reckte und streckte, weil sie längst vergessen hatte, dass sie „herzkrank“ spielen musste. Sie fand jedoch schnell zu ihrer Leidensmine zurück und hörte die Stimme ihrer Mutter:
„Na, du machst ja Sachen, möchtest du mir erzählen, was los war?“
Das wollte Line überhaupt nicht und schaute an ihrer Mutter vorbei gegen die romantische Blümchentapete an der Wand neben sich.
Ihre Mutter kam nun dicht an sie heran und legte ein Ohr auf ihre Brust.
Sie will hören, ob mein Herz noch schlägt, dachte Line.
Genau wie Frau Beutel es getan hatte, befühlte auch ihre Mutter ihr Handgelenk, nickte und lächelte zufrieden.
„Was meinst du, schaffst du es, mit meiner Hilfe aufzustehen und mit mir nachhause zu gehen? Ich denke, die frische Luft wird dir gut tun.“
Mit schwacher Stimme hauchte Line ein „Ja“ und erhob sich umständlich. Sie schwankte in die Arme ihrer Großmutter und lief wenig später Rotwein erfahren und plappernd neben ihrer Mutter her, froh darüber, dass ihr keine weiteren Fragen gestellt wurden und sie noch ein weiteres Geheimnis geheim halten konnte.
Lüder, der neben Frau Mu wohnte, spielte in Lines Leben seit einiger Zeit eine immer wichtigere Rolle. Er war nur einige Monate älter als sie, aber einen ganzen Kopf größer. Sie gingen in dieselbe Klasse. Lüder war immer sehr nett zu ihr, zeigte ihr, wo sie ohne Schwierigkeiten über einen Graben springen konnte, sprang voraus und fing sie auf der anderen Seite auf, oder er reichte ihr seine Hand, wenn sie über einen Zaun klettern wollten. Und er hatte für sie die erste gelbe Huflattichblüte abgebrochen, die er entdeckt hatte und gesagt, er möchte gern ihr Freund sein. Und Line hatte genickt. Sie hatte das Gefühl, das Lüder sich jedes Mal richtig freute, wenn ihre Freundin Hanna krank war oder aus einem anderen Grund nicht in die Schule gehen konnte. Dann wartete er im großen Flur von Frau Mu, bis Line die Treppe herunter kam und ging dann Hand in Hand mit ihr die lange Landstraße entlang, zur Schule. Dabei erzählte er ihr alles Mögliche, was Line spannend und manchmal auch komisch fand, weil sie solche Jungensachen nicht glauben konnte. Line spürte, dass er sie beim Erzählen heimlich aus den Augenwinkeln ansah. Wenn sie dann zu ihm aufschaute, wurde er ganz verlegen und lächelte. Und eines Tages hatte Lüder eine Neuigkeit, die ihm unter den Nägeln brannte, und die er Line unbedingt erzählen musste.
Es ging diesmal um seine Schwester.
Die war schon lange ein junges Mädchen, hatte aber nur klitzekleine Brüste.
Tim nannte so etwas Mückenstiche und fand sich witzig, dass er sich traute, das laut zu sagen.
Line und Lüder saßen auf dem Holzsteg unten am Fleet, und Lüders nackte Füße wirbelten zappelnd das Wasser auf, als er grinsend haspelte:
„Die ist verliebt“.
Er kicherte jetzt noch lauter in seine Hand und wiederholte: „Verliehiebt“.
Line ahnte, dass er eine Ahnung davon hatte, was das war.
Denn genauso bedeutungsvoll sagte er: „Sie verheiraten sich bald“.
Heiraten war wie Vater, Mutter, Kind spielen, nur in Wirklichkeit, dachte Line.
Eine Weile waren Lüder und Line still.
Sie bewegten ihre Füße nur ganz langsam im Wasser hin und her, als Lüder plötzlich sagte: „Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich“.
Und dabei schaute er Line nicht einmal an, sondern sah über sie hinweg zum schlickigen Ufer auf der anderen Seite des Fleetes, wo kein Schilf wuchs.
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