Gloria Fröhlich
DIE SCHATTENBITTE
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gloria Fröhlich DIE SCHATTENBITTE Dieses ebook wurde erstellt bei
1.Kapitel
2.Kapitel
3.Kapitel
4.Kapitel
5.Kapitel
6.Kapitel
7.Kapitel
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GLORIA FRÖHLICH
DIE SCHATTENBITTE
Ihr seid mir die Liebsten, flüsterte Anna-Hedwig und strich mit der Hand zärtlich über die pastellfarbigen Blüten, die vor Kraft strotzten. Die tiefgrünen, buschigen Pflanzen hatten sich nach der Gewalt des gestrigen Unwetters, wieder zu ganzer Größe aufgerichtet. Vorsichtig sammelte sie die Löwenmäulchen ein, die dem Sturm und Regen doch zum Opfer gefallen waren und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, auf der nassen Erde lagen. „Es tut mir so weh, dass ich euch nicht beschützen konnte. Hätte ich für euch ein Glashaus, wäret ihr jetzt noch bei den anderen“, flüsterte sie. Anna-Hedwig verbrachte gern viel Zeit in ihrem verwilderten Garten, kümmerte sich um die unzähligen Blumen und sprach in einschmeichelndem Ton mit ihnen, wie eine liebende Mutter mit ihren Kindern. Sie erfreuten ihr Herz, wenn sie mit einer bunten Farbenpracht prahlten, und sie nannte sie ein Wunder vollkommener Schönheit. Und Anna-Hedwig sorgte sich, wenn sie vor sich hinkümmerten und sie herausfinden musste, woran es ihnen wohl mangelte. Lasst Blumen sprechen. Die rote Rose ist das Symbol für die Liebe. Die gelbe Rose bekommt die Schwiegermutter, die weiße Lilie symbolisiert Reinheit, und das Veilchen verkörpert Bescheidenheit. So sagen es Menschen durch die Blumen. Sprechen Blumen für sich selbst, sieht es anders aus. Mit hängenden Köpfen tun sie unmissverständlich kund, wenn sie durstig sind und wenn ihnen Staunässe zu schaffen macht. Und sie zeigen ihre Wunden, wenn sie von saugenden Blattläusen befallen sind und von anderen Fressfeinden bedroht wurden. Blumen sprechen auch, indem sie sich weigern, zu blühen, und sie bekommen Krankheiten. Zum Beispiel dunkle Rostflecken und Mehltau, der sich wie ein weißer Schleier auf ihre Blätter legt. Wehmütig hielt Anna-Hedwig die aufgelesenen Löwenmäulchen auf ihrer Handfläche, wie auf einer Bahre, um sie zu Grabe zu tragen. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, welke Blüten auf den Kompost zu werfen, sondern hatte eine alte Kristallschale bereitgestellt, in der bereits verblühte Stiefmütterchen und Rosen eng beieinander lagen, in der ihre Farben verschwammen, und der Verfall wie ein malender Künstler mit weich fließenden Konturen die Endlichkeit skizzierte. Anna-Hedwig stand bewegungslos da und genoss die Stille dieses Sonntags in der neuen Umgebung, die aus allen Richtungen fiel. Wenig später lauschte sie auf den monotonen Ruf der Kirchenglocken in der Ferne, der von dem leichten Wind immer wieder für einen kurzen Augenblick verschluckt wurde. Sie war dem fordernden Ruf dieser Kirche erst ein Mal gefolgt und hatte dann versucht, wenigstens ein wenig zu glauben, was sie glaubte, schuldig zu sein, wenn sie sie schon für ihr Bedürfnis betrat. In allen Kirchen brach sie immer ein wenig weg, um dann leise und auf Zehenspitzen wieder zu wachsen, wenn sie verhalten in einer der dunklen oder hellgrau gestrichenen Bänke einen Platz fand und dann, die Hände im Schoß, in die meistens weiß gekalkte Höhe sah und sich so winzig und erwartungsvoll unwohl fühlte. Dann nahm sie sich vor, diesen Ort, der ihr nicht gut tat, in Zukunft zu meiden. Aber seit sie hierher gezogen war, drängte sie es eines Tages doch wieder, es war an einem Montag, die erwartete Ehrfurcht des Gewölbes und die klamme Kühle der Kirche aufzusuchen, um sich andächtig und dankbar zu geben und um vielleicht doch das zu finden, was sie glaubte, zu suchen. Es geschah selten, dass sie mit dem blutigen Leid des Gekreuzigten allein war, aber es schien tatsächlich so zu sein, denn sie hatte die zusammengesunkene Gestalt in der Bank nicht bemerkt, an der sie vorbeigegangen war, um in der ersten Reihe zu sitzen, als wäre die Nähe zu Jesus am Kreuz wichtig, als eine krächzende Stimme sie mit Hilfe der hervorragenden Akustik bis ins Mark erschreckte. „Du widerliche Schlampe, du dreckige Hure, du hässliches Miststück“. Anna-Hedwig hatte vor Entsetzen, dass die Beschimpfungen eindeutig ihr galten, kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen können. Sie hatte den Kopf in die Richtung gedreht, aus der die Schimpftirade gekommen war und dann das knallrote Kleid und den kleinen schwarzen Sonnenhut entdeckt, der tief in ein blasses Gesicht gezogen war, das sich ihr jedoch nicht zuwandte. Sie war langsam und verunsichert weiter gegangen, war unfähig gewesen, etwas zu erwidern, hatte tief ein und aus geatmet, war am Taufbecken vorbeigegangen und vor der dicken, roten Kordel, der Absperrung zum Altar, stehen geblieben. „Du Drecksau, du ekelhaftes Monster“, hatte es abermals hinter ihr gekrächzt. Ein sonderbares Gefühl hatte Anna-Hedwig beschlichen. Es war eine Mischung aus staunender Empörung und einer unglaublichen Unfassbarkeit darüber, was ihr gerade widerfuhr. Ausgerechnet hier, an diesem Ort, an dem sie sich in einem fragilen Zustand befand und sich sicher aufgehoben fühlen wollte, tat ihr jemand verbale und somit auch psychische Gewalt an. Das war mehr als skurril. Anna-Hedwigs Augen hatten beinahe blind das großformatige Abendmahlsgemälde überflogen, die Gesichter der Jünger und das von Jesus gestreift, und sie hatte währenddessen absolut nichts denken können. Sie fühlte sich miserabel und empfand zum ersten Mal, wie verletzlich und hilflos sie gerade auch an diesem Ort war, weil er ihr tatsächlich keinerlei Schutz bot. Sie hatte sich umgedreht, den Blick zu dem knallroten Kleid unter dem schwarzen Sonnenhut vermieden und war eilig durch das Kirchenschiff, dem dämmrigen Ausgang entgegen gestrebt. Und wieder wurde sie von einem ordinären Wortschwall verfolgt. Endlich hatte sie mit jetzt heftig aufsteigender Wut, die schwere Doppeltür erreicht. Dabei nahm sie aus den Augenwinkeln einen großen, reglosen Schatten wahr. Schon hatte sie den hoch angebrachten, klobigen Türdrücker kalt in ihrer Hand gespürt, ihn kräftig nach unten gedrückt und die Tür langsam aufgeschoben. Dann war sie hindurchgeschlüpft, mit einem Schritt auf der ersten, ausgetretenen Steinstufe und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Erleichtert hatte sie aufgeatmet. Das gleißende Sonnenlicht blendete. Niemand war zu sehen. Ein geradezu himmlischer Friede waberte träge in den Tag, als wäre nichts geschehen. „Gotteshaus, verdammt noch mal, das ist ein Gotteshaus“, hatte sie geflüstert und noch hämisch hinzugefügt: „Kaum zu glauben, das ist wirklich verrückt“. Anna-Hedwig hatte kaum Zeit, sich zu besinnen, als die Kirchentür hinter ihr geöffnet wurde und sie auf weitere Beschimpfungen gefasst war. Ihr Herz hatte wie wild gepoltert, und sie überlegte, was sie tun würde, sollte die Fremde es noch einmal wagen! „Tourette, sie hat das Tourette-Syndrom, machen sie sich nichts draus“. Die sonore Stimme neben ihr klang, als spräche sie zu einem verstörten Kind. Anna-Hedwig sah den dunkel gekleideten Mann überrascht an. „Eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Sie leidet unter dem Zwang, obszöne und aggressive Ausdrücke herausschreien zu müssen. Andere kneifen ständig die Augen zusammen, rümpfen die Nase, schneiden Grimassen oder machen merkwürdige Geräusche. Das haben sie doch bestimmt schon gesehen und davon gehört. Es gibt noch andere Tics, wie man diese Auffälligkeiten auch nennt. Heilbar ist das nicht“. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau schien den Mann zu locken.
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