Gloria Fröhlich
"DER SCHNUCKENTANZ"
Liebe und Sehnsucht
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gloria Fröhlich "DER SCHNUCKENTANZ" Liebe und Sehnsucht Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Impressum neobooks
Gloria Fröhlich
„DER SCHNUCKENTANZ“
Liebe und Sehnsucht
Wie frische Blutstropfen hingen die reifen Beeren in dem lahmenden Blattgrün des Spätsommers. Die ersten Nebelschwaden am Morgen. Das fahle Licht am Mittag. Der Herbst wird sich schon bald in das Schweigen der Vögel schleichen, wenn die Spinnen mit feinen Fäden Wege versperren. Aber noch spielte der laue Septemberwind in den uralten Eichen mit den gruseligen Laubfratzen. Die rissen zahnlose Mäuler unter gewaltigen Knollennasen auf. Tiefschwarze Schattenaugen glotzten, glühend, wie brennende Kohlen, wenn die Abendsonne das Blattwerk durchbohrte. Über dem Dorf lag wieder eine grenzenlose Müdigkeit. Nur weit außerhalb, in der alten Lehmkate, wo die wulstigen Heidepolster begannen, pulsierte das Leben, als der Schneebesen von schlanken Händen gepackt, mit schnellen Schlägen durch das schlüpfrige Eiklar von zwanzig aufgeschlagenen Eiern sauste. In wenigen Minuten kroch ein gerucharmes, pummeliges Fantasiewesen aus festem Eischnee bis an den Rand der großen Waschschüssel aus elfenbeinfarbigem Steingut. Langsam löste sich das Küchengerät aus der weißen Gestalt, wie nach einem Akt der Zeugung und wurde auf einem Holzbrett neben dem aufgeschlagenen, in schwarzes Leder gebundene Buch, abgelegt. Eine zweite, sehr viel kleinere Schüssel kam ins Spiel, die mit nur wenigen gehäuften Esslöffeln des Eischnees gefüllt wurde. Zwei Teelöffel Rum aus einer plumpen Flasche kleckerten auf die poröse Basis, bevor Agnes erneut in dem Buch las, was nun zu tun sei und dann gezielt nach dem Glasröhrchen griff, das sie in ihrer Schürzentasche verborgen hielt. Sie löste langsam den Korken und hielt sich das Röhrchen neugierig schnuppernd unter die Nase. Aber aus dem Glasröhrchen stieg kein Duft, und Agnes traute sich nicht, den Inhalt zu probieren und ließ dann nicht mehr als elf Tropfen der glasklaren Flüssigkeit, in dem schon würzig nach Rum duftenden Eischnee versinken. Sie hatte sich sputen müssen, reichlich Eier und eine Menge Puderzucker, Blockschokolade, sowie bunten Zuckerstreusel in ihre Kate zu tragen, bevor Backzutaten im Supermarkt knapp wurden. Wie jedes Jahr hatten sich alle backfreudigen Weiblichkeiten, die in diesem Dorf zuhause waren, dazu bereit erklärt, eine Menge große, größere, sowie einhappenkleine Baisers, denen sie Rum oder Likör beimischten, zu backen. Sie würden sie aufwendig mit Schokolade und buntem Zuckerstreusel dekorieren und rechtzeitig zum „Schnuckentanz“ beim Festkomitee im Gemeindehaus abliefern. Auch die Frauen aus den benachbarten Gemeinden machten mit, wie es schon seit Generationen üblich war. Um viel mehr Baisers als sonst, hatten die Organisatoren, ohne einen triftigen Grund dafür zu nennen, mit einem auffallend dringenden Appell, in violetter Fettschrift in einem Rundschreiben auf festem Papier gebeten. Das war so ganz anders, als in all den Jahren zuvor. Aber wozu um Himmels Willen, brauchten sie diesmal so viele Baisers?“ Und die geheimnisvolle Aufforderung war dann auch sehr erfolgreich. Obwohl Agnes schon lange nicht mehr zum „Schnuckentanz“ ging, hatte sie sich niemals darum gedrückt, ihren Beitrag für den Spaß der anderen zu leisten. Die Frauen hantierten tagelang wie wild in ihren Küchen mit den Zutaten und Backblechen und trugen eine gewaltige Menge Baisers, sorgsam in riesige, braune Papiertüten verpackt, ins Gemeindehaus. So wurde für den diesjährigen „Schnuckentanz“ für eine Unmenge süße Vielfalt gesorgt. Jetzt ließ Agnes das wieder fest verschlossene Glasröhrchen zurück in die Tasche der Schürze gleiten, um es später im Schutz der mondlosen Nacht, in der handgroßen Blechdose still und heimlich an derselben Stelle im Garten unter den dicken Mooskissen neben der Klärgrube zu vergraben, an der sie es in der vergangenen Nacht ausgebuddelt hatte. Das erste Mal in ihrem Leben! Wild aufgeblühter, krustiger Rost hatte die Dose im Laufe der Zeit fest verschlossen, so dass Agnes ihm mit Kriechöl zu Leibe rücken musste. Sie brauchte Geduld, denn erst nach einer ganzen Weile war es möglich, die Dose zu öffnen und den geheimnisvollen Inhalt vorsichtig herauszunehmen. Jetzt hob sie den Eischnee in der kleinen Schüssel an der Stelle behutsam mit einem Holzlöffel an, wo zuvor der Rum und die elf Tropfen aus dem Glasröhrchen verschwunden waren. Aus einem Sieb ließ sie eine ganze Menge Puderzucker, so fein wie Schnee, rieseln und bemühte sich, die vier Zutaten gleichmäßig zu vermischen, mit der vagen Zuversicht, dass die aus dieser besonderen Masse gebackenen, schätzungsweise sieben Baisers, nach dem Genuss eine, für sie noch immer geheime Wirkung haben würden. Wenn dieses gelungen war und einen dauerhaften Nutzen nach sich ziehen sollte, war es ratsam, rasch zu handeln. So hatte Agnes es in dem jetzt neben ihr liegenden Buch der alten Kräuterfrau, der Heidekatze, wie sie genannt worden war, nachlesen können. Und genau so hatte es die Mutter auf dem Sterbebett mit ihren letzten Atemzügen, brüchiger Stimme und flackernden Augenlidern, stockend geflüstert, und auch die Stelle im Garten mit Nachdruck erwähnt, die die kleine Blechdose mit wichtigem Inhalt versteckt hielt, der für ein Gelingen ganz besonderer Art, unerlässlich war. Doch dann hatte die Stimme der Mutter versagt. Sie hatte nur noch ihre blutleeren Lippen bewegt und dann für immer die Augen geschlossen. So blieb das Geheimnis um die Wirkung der Tropfen und welch anonyme Macht da wirkte, ein Rätsel. Agnes hatte nur sparsam um die Mutter geweint, und das Wissen um die Blechdose unter dem Mooskissen verwässerte im Zuge der täglichen Ereignisse, von Jahr zu Jahr mehr. Doch irgendwann, als Agnes die regelmäßig wiederkehrende Tristesse in ihrem Leben kaum noch ertragen konnte, kam die Erinnerung an die geheimnisvolle Stelle im Garten langsam zurück. Ganz tief in ihrem Herzen wurden die Worte der Mutter wie ein rettender Strohhalm. Agnes hatte allerdings keine konkrete Vorstellung davon, und es fehlte ihr an Fantasie, wie er sie retten würde, wenn sie die Blechdose aus dem Dunkel der Erde holte und den Inhalt benutzte. Trotz der hoffnungsvollen Verheißung, dass das Geheimnis ihrem erbärmlichen Zustand vielleicht doch ein Ende setzen könnte, zögerte sie es jedoch immer wieder hinaus, zu handeln und verwarf schließlich den Gedanken daran als völlig absurd. Vielleicht aber auch aus Bequemlichkeit. Sie war schon so lange an die Eintönigkeit ihres Lebens gewöhnt, und das doch noch erheblich mehr, als den Mut aufzubringen, die Aktion zu wagen, an ihrem Unglück etwas zu ändern. Doch die andauernde Stille in ihrer Kate und die belastende Abgeschiedenheit vom wirklichen Leben nach Feierabend und an den Wochenenden, und noch immer ohne einen, für alle Zwecke brauchbaren Partner, drückten schließlich doch zu sehr auf ihr Gemüt. Es verging schließlich kein Tag, an dem Agnes nicht daran dachte, endlich das Geheimnis der Blechdose zu lüften, verbunden mit einer kuriosen, gruseligen Neugier. Und sie sah die Gelegenheit dazu in dem bevorstehenden „Schnuckentanz“. Der Eischnee in der großen Schüssel bekam jetzt ebenfalls Rum, und zwar reichlich und noch viel mehr fein gesiebten Puderzucker. Sie brauchte eine ganze Menge dieser süßen, schneeweißen Köstlichkeiten, in der die präparierten Baisers dann auch zwischen denen, die die anderen Frauen gebacken hatten, unkenntlich untertauchen konnten und später nicht mehr als die von ihr gelieferten auszumachen sein würden und jeglichen Verdacht, wenn es denn einen geben würde, schwer, wenn nicht gar unmöglich machten.
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