Und natürlich wusste Tim wieder Bescheid, dass das nur so hieß, weil es dort eben Mittagessen gab und das natürlich für alle, und dabei schüttelte er den Kopf, so dass Line klar war, wieder mal etwas Blödes gefragt zu haben.
Line wusste aber, dass in der Gastwirtschaft die alte Schwiegermutter von Stine Dirks herrschte. Was eine Schwiegermutter, und die gab es reichlich, eigentlich so richtig war und welche Bedeutung sie hatte, wusste sie nicht so genau. Sie hatte jedoch gehört, dass Boshaftigkeit, Zank, Streit, Wut und ziemlicher Ärger damit in Verbindung standen.
Mit den vielen Kriegerwitwen in den Dörfern hatte Line ein ähnliches Problem, nur dass es da andere Substantive gab, nämlich Trauer, Halbwaisen, viel Mitleid, weil die Kinder ohne Vater aufwachsen mussten, die ihn in den meisten Fällen ja überhaupt nicht kannten, und dann noch die bange Frage, wie es weitergehen sollte ohne Mann im Haus oder auf dem Hof, denn die Krieger von den Kriegerwitwen waren allesamt im Krieg geblieben und da blieben sie auch für immer.
Die alte Schwiegermutter von Stine Dirks war jedenfalls genau so hoch gewachsen und mager wie die „Stelze“, nur viel, viel älter. Und es mangelte nicht nur Line an gehörigem Respekt vor dieser knochigen Erscheinung. Nach Lines Meinung, sie könnte vielleicht sogar eine Hexe sein, fehlte ihr aber der Buckel, und es gab auf ihrer Nase auch keine Warze mit drei kräftigen Borsten und nicht mal einen schwarzen Kater an ihrer Seite.
Auf dem Tresen der Gaststube stand ein großes Glas mit Sahnebonbons.
Lines schlechte finanzielle Lage war für ihr Alter ganz normal.
Nur selten kam sie an geringfügig Bares, und dann stand ihr Entschluss fest.
Wenig später läutete über ihrem Kopf die Glocke, wenn sie die schwere Tür zur Gastwirtschaft öffnete. Dann stand sie endlich vor dem großen Bonbonglas in der Gaststube, in der es immer nach gebratenen Zwiebeln, Speckessen und kaltem Zigarettenrauch roch.
Sie gruselte sich etwas und wartete ungeduldig auf das Schlürfen der Pantoffeln, das dann von hinten aus der Küche langsam lauter wurde und durch die Gaststube bis an den Tresen kam.
Die alte Frau stand dann wenig später hoch aufgerichtet da.
„Was willst du?“
Die Frage kam barsch, mit Kindern sprach sie so.
„Ich möchte für einen Groschen Sahnebonbons, bitte“, sagte Line laut und deutlich.
Die Alte hörte gut, sehr gut sogar.
Dafür sollte sie aber fast blind sein, wusste Line und war sich nie sicher, ob das stimmte, denn woher wusste sie, dass ein Kind in die Gaststube gekommen war?
Konnte sie vielleicht doch noch ein ganz klein wenig sehen?
Ihre wässrigen Augen sahen Line nicht an, sondern irrten durch die rauchgelben Gardinen vor den Fenstern der Gastwirtschaft hindurch, über die Kreuzung der schmalen Straßen und dann über die Weiden ins Weite.
Lines Geldstück machte ein klackendes Geräusch auf dem Tresen.
Die Alte nahm und befühlte es aufmerksam, machte einen schlürfenden Schritt auf das Bonbonglas zu, hob den Deckel und griff mit ihrer großen, knochigen Hand hinein.
In ihrer geballten Faust befand sich Lines heißer Wunsch, der nun vor ihr auf den Tisch fiel.
„Nimm dir fünf, mehr gibt’s nicht für dein Geld!“
Das war ihr Befehl an Line, ohne sie dabei anzusehen.
Wieder irrten die Augen der alten Frau ziellos durch den Gastraum und zum Fenster hinaus.
Line nahm sich fünf Bonbons und fragte sich gleich darauf, wieso die alte Frau wusste, dass sie sich schon Bonbons abgezählt und beiseite gelegt hatte, denn sie streckte sofort die Hand nach den übrigen Bonbons aus und sammelte sie ein.
Dann war Line sich sicher, dass sie doch noch ein wenig sehen konnte.
Außerdem, wenn sie wirklich ganz und gar blind war, warum stieß sie auf dem Weg von der Küche bis zum Tresen nirgends an?
Niemals, niemals hätte Line auch nur einen Bonbon mehr genommen, als ihr zustand und niemals, niemals gab ihr die alte Frau auch nur einen mehr, als sie musste, bevor sie die restlichen Bonbons aus ihrer Faust zurück ins Glas fallen ließ und es mit dem Deckel wieder fest verschloss.
Die Bonbons versprachen unbeschreiblich sahnige, süße und köstliche Augenblicke, die Line unendlich genießen würde. Sie saß auf dem Steg am Fleet und fühlte, wie weich sie in ihrer Hand wurden und reihte sie auf dem grauen Brett des Stegs nach Farben sortiert auf. Grün stand für Nuss, gelb für Sahne und braun für Schokolade. Sie musste sich zwingen, den, den sie sich jetzt in den Mund gesteckt hatte und der bereits weich an ihrem Gaumen klebte, nicht zu kauen und ihn bis auf das letzte flache Stückchen zu lutschen und sich die Bonbons einzuteilen, jeden Tag einen. Mit diesem Vorsatz sammelte sie sie wieder ein und ließ sie in der Tasche ihres Kleides verschwinden. Sie stand auf, betrat die unterste Stufe der Steintreppe, rutschte weg und verletzte sich das Schienbein bis auf den weißen Knochen. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht und sah dann entsetzt auf den kleinen Hautlappen, der von der messerscharfen Steinkante an dem Schienbein nach oben geschoben worden war. Bei dem Anblick wurde ihr übel. Es blutete nur wenig, tat aber schrecklich weh. Der Sahnebonbon fiel aus ihrem Mund auf die sandige Steinstufe, als sie tief durchatmete, um nicht zu heulen. Trotz des Schmerzes an ihrem Bein nahm sie ihn mit den Fingerspitzen auf, humpelte zurück auf den Steg, bückte sich, wusch ihn im Fleet ab und steckte ihn wieder in den Mund. Dann erreichte sie hinkend den Sommerweg und schlich, jetzt nur noch halb so zufrieden mit sich und der Welt, nachhause. Ihre Mutter kam sofort mit der stinkenden, braunen Flüssigkeit und bückte sich zu ihrem Schienbein hinunter, dem sie den abgeschabten Hautfetzen vorsichtig wieder andrückte, damit er die Wunde verschloss und wieder anwachsen konnte, während Line tapfer den Schmerz aushielt und weiter ihren Bonbon genoss.
In der Mansarde im Haus von Frau Mu, lebte still und zurückgezogen ein altes, aschfahles Fräulein, das früher als Lehrerin gearbeitet hatte.
Line kannte nun schon eine alte Jungfer, die keinen Mann gehabt hatte, und von der Großmutter hatte sie mit Bedauern in der Stimme erfahren, dass junge Mädchen, die auch keinen Mann abbekamen, nie Frauen wurden, sondern für immer Fräuleins blieben. Und dass sie großen Wert darauf legten, auch so angesprochen zu werden.
Und Fräulein Feurig aus der Mansarde, die dem Temperament einer mazedonischen Landschildkröte eher alle Ehre gemacht hätte, als ihrem Namen, trug ihr mannloses Dasein mit betontem Stolz und erhobenen Hauptes.
Nicht, dass da kein „Anwärter“ gewesen wäre.
Doch, doch, schließlich sei sie in jungen Jahren ein hübscher Anblick gewesen.
Aber ihr Entschluss, sich das Problem verheiratet zu sein, zu ersparen, stand schon sehr früh fest, versicherte sie gern immer wieder mit Nachdruck und nicht zu übersehendem eingefrorenem Lächeln. Und damit sie in der Beziehung auch den klaren Durchblick behielt, putzte sie, während sie das allen klar machte, mit einem kleinen, weißen Spitzentaschentuch sehr schwungvoll und ausgiebig ihre Brillengläser.
Fräulein Feurig hatte Line sehr in ihr Herz geschlossen, griff eines Vormittags nach ihrer Hand und flüsterte: „Komm, ich möchte dir etwas zeigen!“
Zu Lines Überraschung stieg sie mit ihr tatsächlich, allerdings sehr gemächlich, die Holztreppe zum Dachboden hinauf.
Das war Line bisher verboten gewesen.
Und da sie noch nie dort oben gewesen war, erwartete sie mit Spannung, wie es dort aussah, und was es dort zu sehen geben würde.
Fräulein Feurig drehte den Schlüssel, der in Lines Augenhöhe im Schloss steckte, krachend herum und öffnete die schmale Holztür, die ein gedehntes Wehklagen von sich gab.
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