In dem Bauernhaus mit zwei Stallungen und dem tief heruntergezogenen Reetdach, das über und über mit dicken, dunkelgrünen Mooskissen bewachsen war, und das an der Landstraße lag, die ins Moor führte, war etwas geschehen, das es der Frau die Mundwinkel unaufhaltsam nach unten zog.
Line wusste sofort, von welchem Bauernhaus sie sprach.
Auf einer Seite des Hauses floss ein breiter Graben, gehalten von einem üppigen Binsenufer. Dort stand halb über dem Graben der „Abtritt“.
Eine windige Bretterbude, dem eine alte Wolldecke die Tür ersetzte, hinter der die kleinen und großen Geschäfte der Bauersleute direkt ins Grabenwasser liefen, tropften und plumpsten.
Einen Meter weiter schöpfte die Bäuerin täglich das Trinkwasser.
Über dieser Idylle lag immer auch ein Hauch von sonderbarer Stille, mehr noch und so ganz anders als ringsherum.
Es gab dort einen riesigen, bisswütigen Ganter, der sich an Kinderbeinen ausgetobt, für alle Zeit gehörigen Respekt verschafft hatte und einige dicke, braune, ewig scharrende und pickende Hühner.
Außer dem Federvieh hatte Line dort nur hin und wieder mal den alten Bauer und zwei Frauen gesehen. Eine hatte graues, zu einem kleinen, festen Dutt gebundenes Haar, die andere eine aufwendig braune geflochtene Haarkrone und war die schon erwachsene Tochter.
Bisher war es Line jedoch versagt geblieben, auch mal die alte Jungfer zu Gesicht zu bekommen, von der der Briefträger mal gesagt hatte: „Die alte Jungfer da, die ist ganz ordentlich, ich weiß nicht, warum die keiner nimmt“.
Und dabei hatten seine Augen kurz das kleine Bauernhaus gestreift.
Line wusste von Tim, dass der Bauer im Sommer manchmal mit einem Blutegel im Nacken herumlief. „Das ist wie Aderlass, vielleicht ist er krank“, hatte Frau Mu gesagt, als Line ihr davon erzählte und sich schüttelte, weil sie Blutegel so eklig fand und sich Aderlass widerlich blutig anhörte. An kühlen Sommertagen sprangen die großen Jungen zunächst in einen der Gräben, bevor sie im kalten Fleet badeten. In den Gräben war das Wasser zwar angenehm warm, aber dort lauerte eine Menge hungriger Blutegel, die sofort ihre Saugnäpfe benutzten und fest an den nackten Körpern der Jungen klebten, um Blut zu saugen. Sie sahen den schwarzen Nacktschnecken ähnlich, die umherzogen und silberne Schleimspuren hinterließen.
Die Jungen verließen dann fluchtartig den Graben, rissen sich in aller Eile gegenseitig die Blutegel von den Leibern und sprangen gehetzt kopfüber ins Fleet, um sich die blutigen Rinnsale von ihrer Haut zu waschen. Das geschah dann mit kämpferischem Gebrüll und einer enormen Wichtigtuerei, wegen des Mutes, sich nicht vor den Blutegeln zu fürchten.
Line verstand nicht, warum die Jungen erst zu feige waren, im kalten Fleetwasser zu baden, was sie nicht so schlimm fand, wie den Umweg über die Blutegel, um dann sowieso ins kalte Fleet zu springen.
Sie rutschte jetzt gelangweilt auf dem Gepäckträger hin und her.
Die harten Verstrebungen drückten sich mehr und mehr in ihre mageren Oberschenkel.
Dadurch, dass sie sich anders hinsetzte, wurde der Schmerz gelindert und dann sofort unwichtig, als sie hörte:
„Er hat sie gefunden. Sie baumelte an einem Strick am Balken auf dem Heuboden“.
Line schaute neugierig nach oben in das Gesicht ihrer Mutter und erkannte darin großes Unbehagen. Dann sah sie das zitternde Kinn der anderen Frau, die jetzt heftig nickte und dabei die Lippen fest zusammenpresste, so als wollte sie einen Schrei verhindern.
Dann öffnete sie den Mund und flüsterte:
„So jung war sie ja nicht mehr, aber dafür nun doch noch zu jung“.
„Warum hat sie das getan, gab es einen bekannten Grund?“
Lines Mutter klang außerordentlich mitfühlend.
Die Frau hob und senkte die Schultern und flüsterte: „Sie hat es ja schon einmal versucht, und ist ins Wasser gegangen, aber es war nicht tief genug“, bekam sie zur Antwort.
Das mit dem Wasser fand Line blöd, natürlich kann man dann nicht schwimmen, aber das mit dem Balken fand sie eine ziemlich gute Idee, um Spaß zu haben.
Die war bestimmt mit viel Schwung richtig weit über den Heuboden gebaumelt, und dass das doch einen Heidenspaß gemacht haben musste.
Und sie verstand nicht, warum sie dafür doch noch zu jung war, wo sie doch angeblich nicht mehr so jung war.
„Der Alte kam völlig aufgelöst zu uns rüber.
Mein Mann ist dann mitgegangen und hat sie abgeschnitten.
Es muss schrecklich gewesen sein.
Seitdem trinkt er einen Apfelkorn nach dem anderen, um wieder zu sich zu kommen!“
Und dann hörte Line noch, dass man in niemanden hineinsehen kann, dass die Eltern jetzt arm und allein sind, weil sie doch nur die Eine hatten, und dass das Leben ja weitergeht.
Und deshalb setzten sich beide Fahrräder umgehend in Bewegung.
Jedes in eine andere Richtung.
Line umklammerte den Bauch ihrer Mutter und schaute auf die dunkelblauen Basaltsteine, die während der Fahrt unter ihr nicht mehr einzeln zu erkennen waren, sondern als glatte Fläche dahinsausten, und in ihrem Kopf wimmelten die merkwürdigsten Gedanken.
Am nächsten Tag erzählte sie Tim von der baumelnden Tochter auf dem Dachboden. Dabei gab sie der Tatsache, dass die abgeschnitten worden war, eine enorme Dramatik, indem sie eine Stirnfalte zog und die Stimme hob.
Aber für Tim war das leider keine Neuigkeit mehr.
„Das weiß ich doch schon, das ganze Dorf redet doch über nichts anderes mehr“, war Tims vorwurfsvolle Antwort.
Dann schwiegen sie einen Moment, bis Line es vor Neugier nicht mehr aushielt und von ihm wissen wollte, was man von der baumelnden Tochter denn eigentlich „abgeschnitten“ hatte.
Tims Stimme klang so, als hätte Line nicht alle Tassen im Schrank.
„Den Strick, den sie um ihren Hals hatte natürlich, was denn sonst, die war ja tot, die hat sich doch aufgehängt“.
Line sah ihn kopfschüttelnd an und sagte vorwurfsvoll: „Wieso denn tot, die hat doch nur am Strick gebaumelt“.
„So ein Quatsch“, sagte Tim, die hat sich wirklich aufgehängt, mit einem Strick um den Hals, verstehst du und deshalb ist sie jetzt tot!“
Wie immer, wenn Line ihm ungewöhnliche oder gewöhnliche Fragen stellte, hatte er auch jetzt wieder etwas zu erklären, weil er nämlich wieder ganz genau wusste, wie das mit dem Aufhängen ging.
„Da nimmt man einen dicken Strick, bindet ihn an einen Balken und macht eine Schlinge, durch die man den Kopf steckt, wenn man sich aufhängen will. Vorher stellt man sich auf einen Stuhl, den man mit den Füssen wegschubst, wenn man sich dazu entschlossen hat, es zu tun. Und dann baumelt man mit dem Strick um den Hals hin und her. Von dem Gewicht, das man hat, zieht sich die Schlinge fest zu, und mit einem kurzen Knack bricht das Genick und man ist tot. Die Augen quellen blutunterlaufen hervor, und die geschwollene Zunge hängt aus dem Mund“.
Tim sah fürchterlich aus, als er das demonstrierte.
Line war fassungslos vor Entsetzen!
Das war dann ja gar kein Spaß, dass sie am Strick gebaumelt hatte, sondern ein schreckliches Unglück, von dem die Frau erzählt hatte, dachte sie.
Line nahm jetzt so richtig Anteil und sagte mit erstickter Stimme: „Die Eltern sind jetzt arm, aber doch nicht allein, da ist ja wenigstens noch die alte Jungfer“.
„Quatsch“, sagte Tim, das ist doch die, die jetzt tot ist, die hatte keinen Mann und dann heißen die so“.
Und Line war voller Mitgefühl einerseits und zufrieden andererseits, dass sie dann ja wenigstens schon mal eine alte Jungfer gesehen hatte und dass es nun endlich wieder eine Beerdigung gab.
Und immer wenn Line später an dem Bauernhaus von der aufgehängten Tochter vorbeifuhr, fühlte sie das Grauen, das nun über ihm in der Luft hing. Wie der Essengeruch, der nicht weit entfernt davon aus der Gastwirtschaft kam, in der seit kurzer Zeit ein Mittagstisch für die fahrenden Händler angeboten wurde. Line war sich nicht sicher, was damit gemeint war. Wenn nur ein Mittagstisch angeboten wurde, woran saßen denn die anderen Handlungsreisenden, von denen ihre Großmutter manchmal sprach.
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