„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen”, begann Günther die Konversation. Es klang etwas hölzern.
„Wir haben uns ohnehin selten gesehen“, stellte Peter fest, „als Roberts bester Freund wurde ich von dir ja in Sippenhaft genommen.“
„Ich weiß“, sagte Günther und schlug einen versöhnlichen Tonfall an. „Lass uns die Zeit vergessen. Du konntest schließlich nichts für die Spannungen zwischen Robert und mir.“
Günther wirkte plötzlich ganz entspannt. Lag das daran, dass er sich in seinem eigenen Wohnzimmer befand, oder realisierte er langsam, von welcher finanziellen Last er befreit worden war?
Peter erwischte sich wieder bei der Überlegung, dass niemand ein größeres Interesse an Roberts Ableben haben konnte als sein eigener Bruder. Um den Gedanken zu verscheuchen, musste er das Gespräch auf ein unverfängliches Thema lenken.
„Wie funktioniert eigentlich so eine Analyse?", fragte er.
Günther schien die Frage zu gefallen. Er stellte sein Cognacglas ab, richtete sich im Sessel auf und berichtete stolz, dass er seit Kurzem über einen der weltweit leistungsfähigsten Analysecomputer verfügte. Damit konnten in wenigen Minuten Untersuchungen durchgeführt werden, die früher Stunden gedauert hatten. Selbst die Polizei kam mit dringenden Untersuchungen zu ihm ins Institut.
Bei dem Thema war Günther ganz in seinem Element und erklärte Peter fast begeistert den technischen und chemischen Hintergrund solcher Analysen. Einiges davon hatte Peter schon einmal im Zusammenhang mit Dopingproben gehört. Aber er wunderte sich immer wieder, welche Rückschlüsse Experten aus etwas Blut oder Urin ziehen konnten.
Günther hatte seine Ausführungen gerade beendet, als Verena und Ulli aus dem Labor kamen. Ihre bedeutungsvollen Mienen sprachen Bände.
„Und?“, Peter sah die Beiden neugierig an. „Was habt ihr gefunden?“
An Stelle einer Antwort reichte Verena Günther drei ausgedruckte Blätter. „Die Interpretation der Befunde ist Chefsache“, erklärte sie.
Günther sah Verena zufrieden an. Er schätzte nicht nur ihre Tüchtigkeit, sondern auch ihre Loyalität. Dann überflog er die drei Blätter. Als er sie sortiert hatte, deutete er auf den obersten Bogen. „Hier stehen Roberts Leberwerte und seine harnpflichtigen Substanzen“, erklärte er, „jede Analyse beginnt mit der Überprüfung der Leber- und Nierenfunktion, damit wir wissen, ob mögliche Gifte normal abgebaut und ausgeschieden werden. Diese Werte sind bei Robert völlig normal."
Er schob das Blatt nach unten und sah auf den zweiten Bogen. „Hier stehen die toxischen Substanzen, die sich in Roberts Blut fanden."
„Und?" fragte Peter.
„Zunächst mal Alkohol.” Günther deutete auf eine der Ziffern. „Null Komma vier Promille. Dieser Wert wird auch im Protokoll der Polizei stehen. Da niemand außer Robert geschädigt wurde, dürfen wir davon ausgehen, dass die Geschichte damit für die Polizei erledigt ist.“ Günther machte eine Pause und sah Peter mit ernster Miene an. „Aber Robert hatte noch etwas im Blut, was da nicht hingehört, und zwar in einer sehr hohen Konzentration."
„Nämlich?“
„Methamphetamin!“
„Methamphetamin“, wiederholte Peter kopfschüttelnd, „ist das nicht Crystal Meth?“
„Richtig“, bestätigte Günther.
„Crystal Meth“, wiederholte Peter und sein hilfesuchender Blick ging von Günther zu Ulli. „Robert hat nie irgendwelche Drogen genommen.“ Sein Blick forderte Ulli zu einer Äußerung auf. „Du hast ihn doch zu allen Festen begleitet. Ist dir jemals etwas aufgefallen?“
„Nein!“, Ulli bekräftigte seine Aussage mit einem energischen Kopfschütteln.
Günthers Miene wirkte gleichmütig. „Irgendwann ist immer das erste Mal.“
„Crystal Meth ist im Moment sehr populär“, ergriff Verena das Wort, „eine Art Modedroge. Und viel billiger als Kokain.“
Peter hatte davon gehört. Er sah Günther an. „Wie wirkt Crystal Meth?“
„Pharmakologisch handelt es sich bei Crystal Meth wie gesagt um Methamphetamin“, erklärte Günther, „eine Substanz, die enthemmt und Gefahren gegenüber gleichgültig macht. Methamphetamin wurde im zweiten Weltkrieg unter dem Namen Pervitin millionenfach eingesetzt, um Panzerfahrern und Piloten die Angst zu nehmen.“
„Also enthemmt es?“
„Ja.“
„Und nach was schmeckt Crystal Meth?“, fragte Peter.
„Es ist fast geschmacklos“, erklärte Günther, „vielleicht mit einem winzigen Schuss ins Saure.“
„Ins Saure!“, wiederholte Peter. Dann sah er Ulli an. „Was hat Robert heute Abend getrunken?“
„Campari“, sagte Ulli, „wie immer.“
Peter überlegte kurz. „Nehmen wir einmal an, jemand hätte das Zeug in Roberts Glas getan.“ Er sah Günther an, „dann wäre es ihm doch kaum aufgefallen.“
„Wohl kaum“, bestätigte Günther.
Peter überlegte kurz, dann deutete er auf das dritte Blatt in Günthers Hand. „Was hast du da noch?"
„Den Urinbefund“, erklärte Günther, „hier finden sich nur Spuren von Amphetamin und Norephedrin.“
„Und was bedeutet das?"
„Diese beiden Substanzen sind Abbauprodukte des Methamphetamins. Ist die Konzentration einer Substanz im Blut hoch, die ihrer Abbauprodukte im Urin jedoch niedrig, bedeutet das, dass sich die Substanz zum Zeitpunkt der Entnahme vorwiegend im Blut befand und damit maximal wirksam war. Roberts Befunde sprechen dafür, dass zum Zeitpunkt seines Unfalls die Droge maximal wirksam war.“
Peter starrte Günther an. „Und was bedeutet maximal wirksam?“
Günther setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. „Um es laienhaft auszudrücken: Bei einer solchen Konzentration von Methamphetamin muss man davon ausgehen, dass Robert nicht mehr Herr seiner Sinne war.“
Peter schüttelte ungläubig den Kopf. „Was für eine Geschichte!“ Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach Drei. Er brauchte dringend Schlaf. Er blickte sich um. Alle sahen müde aus. „Wir sollten ins Bett gehen”, schlug er vor und erhob sich. Ulli folgte seinem Beispiel.
Die beiden Freunde bedankten sich bei Verena für die Analyse und ließen sich von Günther zur Tür bringen.
Peter hatte noch eine Frage an Günther. „Hast du schon eine Vorstellung, wann die Beerdigung sein wird? Ich meine wegen deiner Eltern.”
Er wusste von Robert, dass sich die Eltern Bard auf einer Kreuzfahrt in Südostasien befanden.
„Ich kümmere mich morgen darum“, sagte Günther, „wenn der Termin der Beerdigung feststeht, sage ich dir Bescheid.“ Er wollte sich gerade verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. Er sah Peter und Ulli eindringlich an. „Ich möchte, dass das Ergebnis dieser Analyse unter uns bleibt. Mit einem Skandal ist keinem gedient – vor allem nicht Roberts Andenken!”
Als er den beiden zum Abschied die Hand reichte, war es, als besiegelten sie ein Schweigegelübde.
Eine Minute später standen die beiden Freunde an ihren Autos. Ulli wollte schon einsteigen, als er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. „Mein Gott“, stieß er hervor, „ich habe ja noch etwas für dich. Das habe ich völlig vergessen!“ Er kramte in seiner Fototasche. „Nach dem, was inzwischen passiert ist, könnte es sogar wichtig sein.“
Peter sah den Freund verständnislos an. „Von was sprichst du?“
„Von Frank“, sagte Ulli, „er hat mir auf Beaulieus Fest ein Päckchen für dich gegeben.“ Ulli hatte gefunden, was er suchte und reichte es Peter.
Peter nahm es verwundert entgegen. „Ist Frank nicht im Urlaub?“
„Ja“, bestätigte Ulli, „er sitzt gerade im Flieger zu den Bahamas. Nächsten Sonntag ist er zurück.“
Peter hielt das Päckchen unschlüssig in der Hand. „Weißt du, was das ist?“
„Keine Ahnung“, sagte Ulli, „mach es auf!“
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