Wenn die Tür aufging und Menschen hin und her eilten, wurde das Piepen lauter. Peter versuchte aus den Mienen der Helfer zu entnehmen, wie es Robert ging. Aber er sah nur konzentrierte Anspannung. Oder waren es nicht doch schon Anzeichen von Resignation?
Plötzlich schlug das Piepen in einen hässlichen, schrillen Dauerton um, der nach wenigen Sekunden jäh versiegte. Kurz darauf erstarb auch das Pumpgeräusch der Beatmungsmaschine.
Totenstille lag über der Ambulanz.
Jeder wusste, was das bedeutete. Die vier in der Wartezone sahen sich mit versteinerten Mienen an.
Kurz darauf kam der Chirurg heraus und wandte sich an Günther. „Es tut mir leid“, sagte er, „die Verletzungen waren zu schwer. Wir hatten keine Chance.”
In diesem Moment erschienen zwei Polizisten. Ulli hatte sie schon an der Unfallstelle gesehen. Sie wandten sich direkt an den Chirurgen, der in seiner blutverschmierten Operationskleidung unschwer als der richtige Ansprechpartner zu erkennen war.
„Wie geht es dem Unfallopfer?”, fragte der erste Polizist.
„Er ist gerade gestorben“, sagte der Arzt.
Der Polizist nickte. Er wirkte nicht überrascht. „Haben Sie schon seine Identität, seine Papiere?”
Der Chirurg verneinte.
Die Beamten wechselten einen kurzen Blick, dann verschwand einer wortlos in dem Ambulanzraum. Der andere sah die vier auf der Bank an. „Sind Sie Angehörige?“
Der Chirurg deutete auf Günther. „Das ist sein Bruder. Er ist ein Kollege von mir.”
„Mein Beileid”, murmelte der Polizist. Es klang sehr sachlich. „Haben Sie Ihren Bruder schon identifiziert?”
„Nein.“ Günther schüttelte den Kopf. Von der Tür aus hatte er das Gesicht nicht erkennen können.
Der zweite Uniformierte kehrte aus dem Ambulanzraum zurück und reichte seinem Kollegen einen Personalausweis. Der zeigte ihn Günther. „Ist das der Ausweis Ihres Bruders?”
Günther sah auf das Dokument. „Ja”, bestätigte er.
„Könnten Sie dann bitte kurz mit hinein kommen und ihn identifizieren?”
Günther sah den Beamten erstaunt an. Dann deutete er auf den Ausweis. „Aber sie haben doch schon seine Identität!”
Der Polizist setzte eine nachsichtige Miene auf. „Das ist nur die Identität des Halters des Wagens”, erklärte er geduldig, „und die kannten wir schon.“
Peter und Ulli starrten sich an. Beide begriffen im selben Moment, was der Beamte damit sagen wollte. Ulli erhob sich und trat zu dem Polizisten. „Haben Sie seinen Mantel?” Ullis Stimme klang aufgeregt.
Sekundenlang herrschte Schweigen. Die beiden Uniformierten tauschten einen kurzen Blick. „Was für einen Mantel?” fragte der erste.
„Einen blauen Kaschmirmantel”, drängte Ulli, „wir waren gemeinsam auf einem Fest und Robert“, Ulli deutete auf den Ausweis in der Hand des Polizisten, „trug diesen Mantel.“
Die Polizisten sahen sich erneut an, dann schüttelte der erste den Kopf. „Nein“, erklärte er mit Bestimmtheit, „das Opfer trug keinen Mantel und auch im Fahrzeug haben wir keinen Mantel gefunden. Ein so großes Kleidungsstück wäre uns aufgefallen.”
Ulli und Peter sahen sich an. Beiden schoss der gleiche Gedanke durch den Kopf. Der blaue Kaschmirmantel gehörte zu Roberts Lieblingsgarderobe. Er würde ihn niemals irgendwo zurücklassen. Wenn der Unglücksfahrer den Mantel nicht dabei hatte, konnte es dafür eine ebenso naheliegende wie aberwitzige Erklärung geben: bei dem Mann, der soeben seinen Verletzungen erlegen war, handelte es sich gar nicht um Robert! Damit fänden nicht nur der verschwundene Mantel, sondern auch der nicht angelegte Sicherheitsgurt und die unverständliche Raserei eine Erklärung.
Für den Umstand, dass sich Roberts Ausweis bei dem Verunglückten befand, konnte es viele Erklärungen geben. Vielleicht handelte es sich um einen Autodieb, der Robert die Papiere und den Schlüssel entwendet hatte. In der Hitze von Beaulieus Fest hatten viele Herren ihr Sakko abgelegt. Da hätte ein Dieb leichtes Spiel gehabt. Wer achtet in dem Trubel eines solchen Festes schon auf sein abgelegtes Sakko? Vor allem, wenn nur geladene Gäste anwesend sind und man praktisch unter sich ist.
Einer der Polizisten schien in eine ähnliche Richtung zu denken. „Ein Porsche ist ein schönes Auto”, meinte er, „deshalb sollten wir uns Gewissheit verschaffen.” Er wandte er sich wieder an Günther. „Würden Sie das Opfer jetzt bitte identifizieren?“
Als Günther zwei Minuten später den Ambulanzraum in Begleitung des Chirurgen verließ, sprach sein Gesicht Bände. Schwerfällig ließ er sich neben Verena nieder.
„Und ...?”, Peter wollte Gewissheit haben.
Günther atmete tief durch. „Es ist Robert.”
Eisiges Schweigen legte sich über die Runde. Die kleine Flamme der Hoffnung war jäh erloschen. Bei dem Toten handelte es sich also doch um Robert und nicht um einen Autodieb!
Ulli fand als erster seine Fassung wieder und stand entschlossen auf. „Robert war für mich mehr als nur ein guter Freund”, verkündete er. „Ich möchte mich selbst von ihm verabschieden."
Der Chirurg schien skeptisch. „Behalten Sie ihn lieber so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten”, meinte er, „es ist kein schöner Anblick.”
„Ich kann es mir denken”, sagte Ulli, „ich war selbst am Unfallort. Aber ich möchte ihn noch einmal sehen.”
Der Chirurg zuckte mit den Schultern und schob Ulli die Schiebetür auf. Peter folgte zögernd.
Der Ambulanzraum sah aus wie ein Schlachtfeld. An einem Ständer hingen mehrere halbvolle Infusionsflaschen und die Blutspuren auf dem Boden waren mit Zellstoff mehr verschmiert als entfernt worden. Der Körper auf dem Behandlungstisch war mit einem blauen Tuch zugedeckt. Die Füße wiesen Richtung Tür.
Peter fühlte plötzlich, wie sein Magen gegen den Anblick rebellierte. „Ich bleibe hier”, flüsterte er, lehnte sich gegen den Türrahmen und atmete tief durch.
Ulli ging langsam weiter bis zum Kopfende und lüftete vorsichtig das Tuch.
Der Kopf des Toten bot einen grauenhaften Anblick. Der Unfall hatte das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die einst so ebenmäßigen Züge waren kaum mehr zu erahnen. Mund und Nase erinnerten an Robert, auch das, was von dem behaarten Schädel übriggeblieben war. Aber war er es wirklich? Wie konnte Günther bei einer solchen Verstümmelung sicher sein, dass es sich tatsächlich um seinen Bruder handelte?
Was war mit den Augen?
Sie waren geschlossen.
Vorsichtig schob Ulli die beiden Lider nach oben.
Die engen Pupillen betonten die Farbe der Iris - ein helles Blau mit einem winzigen Stich ins Graue.
Das waren ohne Zweifel Roberts Augen.
Die endgültige Gewissheit ließ Ulli erschaudern. Behutsam schob er die Lider wieder zu. Dann strich er über ein Stück unverletzte Stirn. „Machs gut, Kumpel“, flüsterte er, „ich werde dich nie vergessen!“
Er deckte das Tuch wieder über den toten Freund und ging zu Peter, der immer noch am Türrahmen lehnte und um Fassung rang.
Ulli legte ihm die Hand auf den Arm. „Es ist Robert“, sagte er leise. Dann kam er etwas dichter an Peters Ohr heran. „Aber etwas stimmt hier nicht“, flüsterte er.
Peter sah den Freund überrascht an. „Etwas stimmt nicht?“, flüsterte er zurück, „wie meinst du das?“
„Seine Pupillen", flüsterte Ulli, „sie sind immer noch eng. Da er tot ist, müssten sie weit sein."
„Und was bedeutet das?“
Ulli sah Peter nachdenklich an. „Ich bin kein Arzt. Aber soviel ich weiß, sind enge Pupillen ein Zeichen für Drogen!”
Sie gingen wieder nach draußen und setzten sich zu den anderen auf die Bank.
Günther unterhielt sich mit den Polizisten, die vor ihm standen.
„Was wird in Ihrem Bericht als Unfallursache stehen?” fragte er. Seine Stimme klang ganz sachlich. Da er an Roberts Tod jetzt ohnehin nichts mehr ändern konnte, musste er an das Wohl seines Instituts denken. Immerhin trug es ihren gemeinsamen Familiennamen. Er hatte lange genug unter dem zweifelhaftem Lebenswandel seines Bruders gelitten. Wenn Roberts Ableben jetzt von einem Skandal überschattet wurde, konnte das auch dem Ruf seines Instituts schaden.
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