Als sie an den Autos angekommen waren und Günther einsteigen wollte, verstellte ihm Verena den Weg. „Welchen Anruf will dein Kollege für dich übernehmen?“
„Eine Sache unter Kollegen“, meinte Günther ausweichend und versuchte, sich an Verena vorbeizuschieben.
„Was für eine Sache?“, insistierte Verena und wich keinen Zentimeter zur Seite.
Peter und Ulli sahen sich verwundert an. Sie hatten noch nie erlebt, dass es jemand wagte, so mit Günther zu sprechen.
„Lass uns fahren!“, sagte Günther.
Verena rührte sich nicht vom Fleck. „Wollten wir nicht ehrlich miteinander umgehen?“
Günther seufzte ergeben. „Der Kollege ruft jemanden für mich an“, sagte er leise.
„Wen?“ Verena ließ nicht locker.
Günther seufzte genervt. „Laura.“
Auf der Fahrt vom Krankenhaus zum Bard´schen Institut ging Peter die Bedeutung von Günthers letzter Äußerung nicht aus dem Kopf. Günther hatte tatsächlich einen Fremden gebeten, seiner Schwägerin die Nachricht vom Tod ihres Mannes zu übermitteln! War die Abneigung gegen den eigenen Bruder selbst über dessen Tod hinaus so tief?
Hatte sich bei Günther so viel Hass aufgestaut, obwohl der Bruderkrieg jetzt auf so dramatische Weise ein Ende gefunden hatte? Eine familiäre Tragödie, die Peter als Roberts bester Freund hautnah miterlebt hatte. Günther, der ältere der beiden Brüder, litt seit der Geburt unter einer Muskelschwäche des linken Beines, die ihn in seinem Bewegungsablauf erheblich behinderte und ihm mit zunehmendem Alter immer mehr zu schaffen machte.
Demgegenüber lebte der jüngere Robert seine körperliche Unversehrtheit geradezu provokant aus. Dazu gehörten nicht nur sportliche Aktivitäten, sondern nach der Pubertät auch immer häufiger hübsche Mädchen, mit denen er dem behinderten Bruder vor Augen führte, wie schön ein Leben in Unversehrtheit sein konnte. Günther rächte sich im Gegenzug mit Sticheleien und ließ keine Gelegenheit aus, seinen Bruder wegen dessen ausschweifenden Lebenswandels und der damit verbundenen vermeintlichen Unzuverlässigkeit bei den Eltern anzuschwärzen.
Um dieser spannungsgeladenen familiären Situation zu entkommen, hatte Robert gleich nach dem Abitur sein Elternhaus verlassen und sich in Schwabing eine Studentenbude genommen. Da sich die Brüder jetzt nur noch selten sahen, herrschte eine Art Burgfrieden. Aber die trügerische Ruhe konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Vater die Pläne für sein Lebenswerk begraben musste. Denn ursprünglich sollten seine beiden Söhne die Leitung des Bard´schen Instituts gleichberechtigt übernehmen. Und zwar passend zu ihren beruflichen Neigungen sollte der Laborarzt Günther den medizinischen Teil und der Betriebswirt Robert die Finanzen übernehmen.
Doch die Kluft zwischen den beiden Brüdern war zu tief, um an ein gemeinsames Arbeiten unter einem Dach überhaupt denken zu können. Da nach Ansicht seiner Eltern das Schicksal den behinderten Günther schon genug gestraft hatte, wurde ihm die alleinige Leitung des Instituts übertragen. Im Gegenzug für seinen Verzicht wurde Robert dafür laut Erbvertrag mit einer monatlichen Ausgleichszahlung an den Erträgen des Instituts beteiligt.
Obwohl sich die verfeindeten Brüder kaum noch sahen, vertiefte diese finanzielle Regelung die Kluft zwischen ihnen. Denn während Günther bisher vor allem wegen seiner Behinderung und der Ungerechtigkeit des Schicksals wütend auf seinen Bruder gewesen war, waren mit seiner Übernahme des Instituts noch handfeste, finanzielle Gründe dazu gekommen. Denn das Institut lief gut und obwohl Robert keinen Finger dafür rührte, musste Günther ihm Monat für Monat einen erheblichen Teil der Gewinne überweisen.
Allerdings war Günther nicht nur ein guter Laborarzt sondern auch ein weitsichtiger Geschäftsmann. Denn er hatte es geschafft, dass in den Erbvertrag ein Passus aufgenommen wurde, der alle Zahlungen auf Roberts Person beschränkte. Günther hatte seine Eltern von der Zweckmäßigkeit einer solchen Klausel mit dem Argument überzeugt, dass nur so einer möglichen Zersplitterung des Instituts durch Familienstreitigkeiten vorgebeugt werden konnte. Robert ließ den Passus durchgehen, da er zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses weder an seinen Tod noch an die Gründung einer Familie dachte.
Doch jetzt bewies Roberts Tod Günthers Weitsicht. Obwohl der jüngere Bruder eine Frau und ein Kind hinterließ, die zur Familie gehörten, konnte Günther ab sofort alle Zahlungen einstellen. Roberts Frau Laura und sein Sohn Paul würden keinen Cent mehr von ihm sehen.
War das der Grund, weshalb Günther seiner Schwägerin die Nachricht vom Tod ihres Mannes nicht selbst überbringen wollte? Hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er sie jetzt finanziell im Regen stehen ließ?
Konnte jemand mehr von Roberts Tod profitieren als sein eigener Bruder Günther?
Doch dann verscheuchte Peter den Gedanken wieder. Günther war behindert und besaß sicher nicht die kriminelle Energie für einen Brudermord.
Wenn er die Hintergründe von Roberts Tod aufklären wollte, musste er anderen Fragen nachgehen. Zum Beispiel, warum der Freund nicht angeschnallt gewesen war und warum er ein so wahnsinniges Tempo drauf hatte. Hatte die Antwort etwas mit Roberts engen Pupillen zu tun? Sollten wirklich Drogen dahinter stecken?
Gleich würden sie mehr wissen!
Peter war Verena dankbar, dass sie die Initiative zur Untersuchung von Roberts Blut ergriffen hatte. Während Günther nur um den Ruf seines Instituts besorgt war und die Fragen um den Tod des Bruders am liebsten sofort unter den Teppich gekehrt hätte, schien Verena tatsächlich an einer Aufklärung interessiert zu sein.
Überhaupt war Peter von Verena angenehm überrascht. Er hatte sie bisher nur durch eher beiläufige Bemerkungen von Robert gekannt. Danach war Verena vor einem knappen Jahr als pharmazeutisch-technische Assistentin von Günther eingestellt worden. Offensichtlich hatte sie es schnell geschafft, ihren neuen Chef nicht nur von ihren fachlichen, sondern auch von ihren weiblichen Qualitäten zu überzeugen. Denn zur allgemeinen Überraschung gab der bis dahin als eigenbrötlerisch und verschroben geltende Günther sein Singledasein auf und ließ Verena bei sich einziehen.
Peters Gedanken wurden unterbrochen, denn sie waren am Institut angekommen. Das fünfgeschossige Gebäude lag bis auf den Haupteingang im Dunkeln. Die unteren vier Etagen beherbergten das Institut, darüber befand sich eine Penthouse-Wohnung, in der Günther und Verena lebten. Durch die räumliche Nähe zwischen Wohnung und Arbeitsplatz kam seine Behinderung im normalen Tagesablauf kaum zum Tragen.
Als sie im Lift nach oben fuhren, deutete Ulli auf den Kunststoffbeutel mit der rosa Flüssigkeit, den Verena in ihrer Hand hielt.
„Was ist das?"
„Urin."
Ulli runzelte die Stirn. „Rosa Urin?”
„Die Verfärbung kommt von den inneren Blutungen", brachte Günther seine Kompetenz als Arzt zum Ausdruck. Seine Stimme klang so sachlich als ginge es um irgendeinen anonymen Patienten.
„Wozu braucht man den Urin, wenn man Blut hat?", fragte Ulli.
„Ganz einfach“, sagte Günther, „viele Substanzen werden nach ihrer Aufnahme im Körper schnell wieder abgebaut. Dann sind sie aus dem Blut verschwunden und nur noch an Hand ihrer Abbauprodukte im Urin nachweisbar."
Sie waren oben angekommen. Die Fahrstuhltür öffnete sich und Günther stieg aus. Verena blieb im Lift und hielt demonstrativ die Proben in die Höhe. „Ich kümmere mich direkt um die Analyse“, sagte sie. Dann sah sie Peter und Ulli an. „Möchte einer von euch dabei sein?“
„Ich“, sagte Ulli schnell.
Kurz darauf saßen Günther und Peter an einem großen Panoramafenster und blickten über München. Peter mit einem Kaffee, Günther mit einem Cognac. Irgendwo unter ihnen waren Verena und Ulli mit Roberts Proben beschäftigt.
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