Außer Rina und Ben gehörte noch Joachim „Jojo“ Karstens zu seinen Leuten, doch der Glückliche befand sich auf Hochzeitsreise und ahnte noch gar nicht, dass seine Kollegen gerade die Tage und Nächte durcharbeiteten, während er sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ.
Als Grzyek nach links abbog, konnten sie gleich sehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Wie Leuchtreklame wiesen die zahlreichen Blaulichter den Weg, auch wenn ihnen die Sicht von einer ganzen Schar Schaulustiger versperrt war.
Und natürlich von der Presse.
Verschiedene Kamerateams hatten bereits ihre Gerätschaften aufgebaut und lauerten auf die erste offizielle Stellungnahme der Polizei. Die Wartezeit vertrieb man sich mit Interviews mehr oder weniger fragwürdiger Art und Live-Schaltungen zu sogenannten Experten. Denn, dass die aktuellen Morde, die der Polizeibericht verzeichnete der Brender-Serie nachempfunden waren, hatte auch der letzte von ihnen inzwischen bemerkt und die Gerüchteküche brodelte gewaltig.
Herwig bereute augenblicklich, dass er darauf bestanden hatte, Frey mit zum Einsatzort zu nehmen. Die ersten Neugierigen hatten ihn schon erblickt und bildeten eine Traube um den mittlerweile geparkten Wagen. Ein Blitzlichtgewitter ging auf sie nieder und Mikrofone bedeckten die Scheiben des Fahrzeugs, als hofften ihre Besitzer, das Glas würde sich entmaterialisieren und ihnen Zugang zu den erhofften Schlagzeilen verschaffen, solange sie nur fest genug drückten.
„Da vorne ist auch Özkilic“, bemerkte Grzyek und deutete auf einen der vielen Journalisten, die gerade vor der Kamera den aktuellen Stand der Dinge zusammenfassten, was eigentlich noch nicht viel sein konnte. Herwig wartete, bis die von Grzyek per Funk angeforderten Kollegen den Wagen freigeräumt hatten, dann forderte er alle auf auszusteigen und ihm zügig zu folgen.
„Für Autogrammstunden ist jetzt nicht der richtige Augenblick“, sagte er sarkastisch und wandte sich zu Frey um. Doch dem war das Kameralächeln gründlich vergangen, wie es aussah. Eher schien er überall, nur nicht hier sein zu wollen. Auch Haferkorn wäre anscheinend lieber im Wagen geblieben. Dabei hätte der Kommissar wetten können, dass die beiden jetzt eine gewaltige PR-Nummer aus der Geschichte gemacht hätten. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt.
„Gehen wir zuerst zu Özkilic“, meinte Müllenbeck beim Aussteigen. „Der kann uns sicher schnell aufklären, was hier los ist.“
Das war zwar nicht ganz ernst gemeint, aber auch nicht gerade die schlechteste Idee und so bahnten sie sich mühsam einen Weg in die entsprechende Richtung.
Als Herwig Tim Özkilic das erste Mal gesehen hatte, hatte er an einen Scherz geglaubt. Denn allen Annahmen zum Trotz, er würde vorurteilsfrei durch sein Leben gehen, hatte er bei dem Namen Özkilic ganz bestimmt nicht mit dem gerechnet, was er zu sehen bekam. Özkilic sah so wenig türkisch aus, wie man nur aussehen konnte. Er war strohblond, riesengroß, hatte fast schon kitschige, klischeehafte blaue Augen und wäre eher als Schwede, denn als Türke durchgegangen. Doch seine Mutter war Deutsche und er hatte wohl eher ihr Äußeres geerbt, war jedoch zweisprachig und mit den Lehren des Islam groß geworden.
Zwischendurch verlor Herwig den Journalisten trotz seiner bemerkenswerten Größe aus den Augen, weil er selber ständig ein Mikrofon unter die Nase gehalten bekam.
Doch obwohl er hartnäckig jede Stellungnahme verweigerte, kamen sie kaum voran.
Erst durch die Kollegen abgeschirmt gelangten sie schließlich zu Özkilic, der inzwischen einen Interviewpartner hatte und mit betroffener Miene seine Fragen stellte.
„Dann waren Sie es also, der das bedauernswerte Opfer gefunden hat?“
Der Mann, dem die Frage galt, polterte sogleich laut los.
„Na, und ob ich das habe. Ist 'ne verdammte Sauerei das hier! Früher, da hätte es so was nicht gegeben. Is' alles das verdammte Fernsehen und Computerzeug schuld, sag ich Ihnen. Das macht die Leute krank im Kopf!“
Bevor Özkilic zur nächsten Frage ansetzen konnte, kam von irgendwo
eine schrille Frauenstimme, gefolgt von einem mageren aber durchaus drahtigen Arm und der Mann wurde einfach vor laufender Kamera weggepflückt.
„Der Mann von der Polizei hat doch extra gesagt, dass du bei ihm bleiben sollst, weil er noch ein paar Fragen an dich hat, Hermann“, keifte die Frau und schob ihn resolut zu dem Haus hinüber, das der Schauplatz des Geschehens zu sein schien.
Verdutzt sah Özkilic den beiden hinterher, dann moderierte er ab und kam zu Herwig herüber.
„Herr Kommissar“, begrüßte er ihn herzlich. „Kommen Sie, um mir zu sagen, wem ich diese ominöse Mail verdanke?“
Haferkorn starrte angestrengt seine Schuhspitzen an.
Dann erblickte der Journalist Frey und man sah ihm förmlich an, wie er 1&1 zusammenzählte. „Ah, dann habe ich also richtig gelegen mit meinem Verdacht, dass alles mit „Brender ermittelt“ zu tun hat? Und Sie haben gleich den Fachmann hinzugezogen, wie ich sehe!“
Für einen Moment drohten Herwig die Gesichtszüge zu entgleisen, doch er war Profi genug, sich zu beherrschen.
„Ja, genau. Als Profi“, sagte er und dem geübten Ohr entging der mitschwingende Unterton keineswegs. Frey sagte er jedenfalls, dass er noch längst nicht aus der Schusslinie war.
Özkilic konnte ihnen tatsächlich einen ziemlich genauen Abriss dessen geben, was sich im Keller des mehrstöckigen Mietshauses zugetragen haben sollte. Viel mehr konnte ihnen der herbeieilende Kollege der Kripo auch nicht mitteilen.
Hermann Biesenbach, wie der ältere Mann, den Özkilic hatte interviewen wollen, mit vollem Namen hieß, war zwar Mieter in dem zehn Parteien zählenden Haus, erledigte aber als Minijobber auch Hausmeistertätigkeiten für die Wohnungsgesellschaft, der das Haus gehörte. In dieser Funktion war er auch beauftragt worden, im Keller nach dem Rechten zu sehen, weil Scharen von Ameisen aus der Parzelle des neuen Mieters dringen würden und man merkwürdige Geräusche vernehmen könne.
Als Biesenbach dann, nach minutenlanger Suche mit den von der Gicht versteiften Fingern endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, war er sich vorgekommen, wie in einem Film von Alfred Hitchcock. Der ganze Raum schien angefüllt zu sein, mit fliegendem, krabbelndem und kriechendem Getier. Die eine oder andere Ratte war an ihm vorbeigehuscht, kaum dass er die Tür geöffnet hatte und sorgte bei den übrigen Nachbarn, die sich neugierig auf dem oberen Absatz der Kellertreppe stapelten, für ein ordentliches Gekreische.
Betont lässig hatte Biesenbach den Raum betreten und das Gekeife seiner Frau ignoriert, die der Meinung war, er solle die Tür lieber gleich wieder schließen und den Kammerjäger rufen.
„Das ist keine Aufgabe für dich“, hatte sie mit sich überschlagender Stimme den Gang hinunter gerufen. „Hinterher schleppst du das Viehzeug noch mit in die Wohnung!“
Biesenbachs Antwort war seiner Aussage zu Folge nicht sehr freundlich gewesen, eher so etwas wie: „Ach was, Weib, halt doch einfach mal deinen Sabbel!.“
Er hatte das Fenster öffnen wollen, um zumindest schon mal das fliegende Getier loszuwerden. Da erst hatte er inmitten der zuckenden und krabbelnden Masse die zertrümmerten Reste des Terrariums und die darin befindliche Leiche entdeckt. Nun war es an ihm gewesen, ein Kreischkonzert zu geben.
Als die von seiner Frau umgehend informierte Polizei eingetroffen war, hatte er noch immer am selben Fleck gestanden und japsend um Atem gerungen.
Wie zuvor schon bei den anderen Toten, handelte es sich auch diesmal wieder um eine Frau. So viel hatte die anwesende Gerichtsmedizinerin, Vanessa vom Stein auch ohne Labor und Obduktionstisch sagen können und ebenfalls wie bei den anderen, trug auch diese Leiche einen kleinen Zettel mit Widmung an Tom Lenz dort, wo einmal ein Zeh gewesen war.
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