1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 „Hauptkommissar Herwig? Ist der Kommissar irgendwo da unten?“, schallte es aus einem der oberen Stockwerke herunter.
„Ich bin hier!“, rief er zurück.
„Sie sollten schnell hochkommen, Herwig. Das hier wird sie interessieren...“
Unverzüglich machten sie sich auf den Weg nach oben. Natürlich wohnte der Mensch ganz oben. Immer wohnten alle ganz oben.
Ein ungutes Gefühl breitete sich von Stufe zu Stufe mehr aus und Herwig beschloss dem entgegenzuwirken, indem er nur jede dritte Stufe benutzte. Es half nicht wirklich.
Die betroffenen Gesichter, die sie erwarteten, als sie oben ankamen, nährten seine Befürchtungen noch. Linker Hand stand eine Wohnungstür offen und als der erste Beamte mit einem gefüllten Beweisbeutelchen die Wohnung verließ, bestand kein Zweifel mehr. Den Bewohner würden sie sicher nicht lebend antreffen.
Kurz darauf fanden sie ihre Annahme bestätigt.
Immerhin, dieses Mal war es eine unblutige Angelegenheit, der Tote hatte scheinbar Tabletten geschluckt und wenn es stimmte, was er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dann war es auch nicht unbedingt traurig um ihn. Und sie hätten zumindest einen von vier Mördern gefunden.
Polizeipräsidium Köln Kalk, am späten Nachmittag
„Was soll das sein?“, fragte Müllenbeck ungläubig und drehte den Zettel in seiner Hand ratlos hin und her. Er hatte das Schreiben erst jetzt lesen können, weil er zuvor noch mit der Spurensicherung gesprochen hatte und war einigermaßen irritiert.
Das Schriftstück war regelrecht künstlerisch gestaltet worden; in schwarzer Tinte auf edlem Papier geschrieben, verziert mit schönen Ornamenten und in geradezu kalligraphischer Schrift verfasst. Da hatte sich jemand richtig viel Mühe mit gemacht.
Aber sein Inhalt war einfach nur eine Aneinanderreihung weitestgehend bekannter Bibelzitate, die der Selbstmörder als Rechtfertigung für seine Tat nutzte und sich selbst förmlich heilig sprach.
Außen „Hui“ und innen „Pfui“ war Müllenbecks erster Gesamteindruck.
In der Hoffnung, ihm möge eine Erleuchtung aufgehen, las der Cyberkriminologe den Text noch einmal.
Sie hatte es verdient!
Schon alleine dieser erste Satz! Wie konnte man es sich verdienen, lebendig aufgefressen zu werden?
„ Denn der Lohn der Sünder ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Jesus Christus, unserem Herrn.“
(Römer 6,23)
Jene, die Gottes Wort nicht achten, verdienen den Tod und sie hat es nicht geachtet. Nicht nur der Völlerei und Hurerei gab sie nach, sie missachtete eines der höchsten Gebote, das da sagt, dass Gottes Geschöpfe nicht getötet werden dürfen. Gott gab uns die Pflanzen zur Speise, nicht die unschuldigen Tiere.
„ Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.“
(1.Buch Mose 1,29)
Pflanzen und Früchte sollen unsere Speisen sein – nicht die Tiere!
Wie viele Leben mag sie den Unschuldigen genommen haben?
Das wurde ja immer besser. Ein militanter Veganer auf einer Mission von Gott?
Doch sie hat noch vor ihrem Ende bereut, was sie getan und erflehte Gottes Gnade, der da gütig ist und den Sündern vergibt.
Denn wie schon in Johannes 1,9 geschrieben steht:
„ Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“
Wie praktisch, auch für ihn, dachte Müllenbeck.
So habe ich sie also geläutert und ihre Seele vor der Verdammnis gerettet und werde nun selbst zu Gott, unserem Herrn, auffahren und seine Güte erfahren. In seine Hände befehle ich meinen Geist, der Name des Herrn sei gelobt!
„ Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben.“
(Johannes 11, 25-26)
Und ein Märtyrer war er offenbar auch noch.
„Der scheint ernsthaft geglaubt zu haben, er hätte etwas Gutes getan!“ Müllenbeck schüttelte verständnislos den Kopf und legte den Zettel auf Grzyeks Schreibtisch. „Der macht so eine Sauerei, bloß weil sie keine Veganerin war? Unfassbar!“
Nachdem es für sie am Tatort nichts mehr zu tun gab, war das Team der SoKo in das Polizeipräsidium zurückgekehrt.
Frey hatten sie unter Auflagen nach Hause gebracht. Er durfte die Stadt nicht verlassen und musste für weitere Befragungen zur Verfügung stehen.
Selbst Herwig hatte mittlerweile eingesehen, dass sie nicht genug in der Hand hatten, um eine Inhaftierung zu begründen, nachdem die Mail nicht von ihm stammte und die Alibis zu den verschiedenen Mordfällen absolut wasserdicht waren. Dutzende Leute konnten bestätigen, dass Frey sich zu den Tatzeitpunkten weder in der Nähe von Rostock, noch von München und nicht einmal in Köln befunden hatte. Es gab nichts mehr, was sie gegen ihn hätten verwenden können.
Zumal sich ja schon vor dem aktuellen Fall abzeichnete, dass es sich nicht um einen einzelnen Serienmörder handelte.
Und was diesen vermeintlichen Mann im Hintergrund anging, das konnte, nach derzeitigem Wissensstand, so ziemlich jeder sein.
Es war ihnen gelungen, den Schauspieler, der nach Haferkorns Beichte wie betäubt hilflos in der Gegend herumgestanden hatte, dank einem kräftigem Kaffee und einer Zigarette soweit wieder herzustellen, dass er ihnen noch bei ein paar Fragen weiterhelfen konnte, bevor sie ihn zu Hause ablieferten. So hatten sie erfahren, dass die Bibelzitate aus dem Abschiedsbrief, oder besser gesagt aus dem Bekennerschreiben, mit den in der Fernsehfolge verwendeten übereinstimmten. Dort hatte der Täter sie während der grausamen Hinrichtung rezitiert, hier waren sie in ein Schriftstück eingearbeitet.
„Es muss einen geben, der das alles lenkt!“
Grimmig starrte Grzyek auf die Kopie des Schreibens vor sich auf dem Tisch. Das Original hatten sie zur Untersuchung auf Spuren ins Labor gegeben. Außerdem sollte noch eine Schriftanalyse mit Vergleichsproben aus der Wohnung des toten Verdächtigen gemacht werden, um sicherzustellen, dass die pathetischen Zeilen auch wirklich von ihm stammten.
„Es kann einfach kein Zufall sein, dass vier Menschen unabhängig voneinander auf die Idee kommen, die Mordmethoden einer Fernsehserie nachzuahmen und ihre Taten dann auch noch diesem Tom Lenz zu widmen. Das muss jemand steuern!“
„Mir kommt das auch vor wie eine einzige große Inszenierung“, bestätigte Herwig. „Diese Widmungen am Zeh, die Videos...Da steckt System hinter.“
„Vielleicht hat jemand die Männer gezwungen, das zu tun“, murmelte Müllenbeck vor sich hin. „Vielleicht wurden sie erpresst?“
„Das glaube ich nicht“, sagte Herwig und auch Grzyek schüttelte zweifelnd den Kopf. „Nein, unser toter „Bote Gottes“ klang mir nicht unbedingt danach, als habe man ihn dazu zwingen müssen. Ich frage mich nur, wie kommt dieser „Möchtegern-Lenz“ an seine potentiellen Täter heran? Wie findet der Kontakt statt? Wenn wir das herausfinden, haben wir auch eine Chance, an den Hintermann heranzukommen.“
„Ich denke, sie werden sich irgendwie über das Internet vernetzt haben. Auf irgendeinem einschlägigen Portal kennengelernt, Gemeinsamkeiten entdeckt und von unserem Tom-Lenz-Verschnitt für seine Zwecke instrumentalisiert. Was auch immer der tiefere Sinn hinter diesen Zwecken sein mag.“
„Ja, so würde ich es auch sehen, Ben. Wenn wir Haferkorns PC haben, kannst du vielleicht über die Quelle der Videos, die wir haben...“ Gerade als Grzyek näher ausführen wollte, was sie sich von Müllenbeck erhoffte, klingelte ihr Telefon.
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