Derweil meldet sich die gelangweilt, leicht arrogant und verstimmt klingende Contratenorstimme eines der angewiderten studentischen Ökos, die den Laden betreiben und hinter einer schmuddeligen Glasvitrine Unmengen selbstgebackener Grünkernklopse stapeln, zwischen langen Fettsträhnen, zwei tiefen, deprimierten Magenfalten und dem hochgezogenen Rollkragen seines selbstgestrickten kratzigen Wollpullis zu Wort und traut sich verstockt zu fragen, wer denn der eklige Faschist sei. Kain grinst von der Theke her breit über sein Branntweinglas und zwinkert herüber. Früher ließ er gern zusätzlich ein Wallraff-Buch, als man ihn noch las, aus der Jackett-Tasche lugen, um die Verwirrung perfekt zu machen.
Kain Cawfield ist wenig über zwanzig. Die sich zusehends ausweitende, mittlerweile kniescheibengroße Fontanellen-Lichtung im heftig angegrauten Kurzhaarschnitt macht ihn gut zehn Jahre älter. Nicht wenige behaupten, er sei wirklich so alt wie er aussieht und habe seine Biographie geschönt, um den Jugendbonus der Musikszene nutzen zu können. Noch gesetzter machen ihn die ausgesucht teuren, etwas altmodischen Tweed-Anzüge, die dezente weinrote Krawatte, die immer blütenweißen taillierten – er würde kalauern: talentierten – Oberhemden, die seine Mutter ihm bügelt, nicht zuletzt der enge schwarze geheimdienst-chronische Ledermantel und der locker nach rechts vorne gekippte graue Humphrey-Bogart-Revival-Hut. Auch bei Kollegen achtet er auf stilvolle und adrette Kleidung. Einmal hat er einen fetten, immer schwitzenden Trompeter wegen seiner verstunkenen Polyesterhemden gefeuert. Mit fünfzehn spielte Cawfield eine verzerrte, irrsinnig laute Hendrix-Gitarre. Als einer mal über ihn lästerte: »Der Anfänger im Rocken«, hörte er, wie man sich erzählt, von heute auf morgen damit auf und begann, Saxophon zu spielen.
Kain hat jeden Abend zwei glanzvolle Solo-Features über »Oleo« und »There will never be another You«, die er nach Belieben, wenn er zum Beispiel will, dass Klammfinger Pfuscher, der doppelt so alt ist wie er, sich im Mittelteil, den er wahlweise mit Trompete, Flügelhorn, Posaune oder Altsaxophon spielt (Jörn ist nämlich Multi-Instrumentalist, ja-ha! Kann alles gleich gut), mal wieder so richtig verhaspelt, die zählt er also nach Belieben in einem so absolut abgehenden Up-Tempo an, dass selbst Stan und ich, die schnellste Rhythmusgruppe zwischen Leine und Ihme, nur noch mit hängender Zunge hinterherzockeln. Dann lächelt er wie entschuldigend oder mitleidig zu Ina rüber, die sich für Jörn rote Backen schämt. Er könnte auch ebenso gut sagen: Sorry Baby, hab ich glatt vergessen, dass dein Mac nicht so schnell kann. Sag ihm, er muss üben, wenn er mit mir spielen will.
Als Sechzehnjähriger hatte Kain im Schultheater verschiedene Rollen gespielt. Die des sentimentalen kleinen Jungen, dem seine Mutti, um nachts Ruhe vor ihm zu haben, statt Milch Whisky gegeben und ihn dann ausgesetzt hat, worauf sich jetzt allabendlich mehrere andere Mütter anerbieten, dem besoffenen und deprimierten Findling aus der nassen Windel zu helfen, inszeniert er seit Jahren erfolgreich.
Auch Ina drängt bisweilen, wenn Jörn auf Toilette ist oder selbst an einem anderen Nahkampf-Schauplatz sein Glück versucht, in die Traube. Die unkontrolliert mitschwankende Flasche Southern Comfort gräbt sich unkomfortabel und klebrig tropfend in ihr weißes Schulterfleisch.
Ach, Kain, warum hast du deine Mutter befleckt? Ss waa isch doch gaanisch, ss waa Ödipus!
Mo. 12.2. Salzgitter, Di. 13. Braunschweig, Do. 15. Hannover, Fr. 16. Emden, So. 18. Lucklum, Mo. 19. Goslar, Mi. 21. Jever, Fr. 23. Oldenburg, So. 25. Oberhausen, Di. 27. Emsdetten, Do. 1.3. Kassel, Fr. 2. Frankfurt, So. 4. Heidelberg, Mo. 5. Esslingen, Mi. 7. Tübingen, Fr. 9. Rottweil, So. 11. Biberach, Di. 13. Fürstenfeldbruck, Mi. 14. Freiburg, Fr. 16. Romans, Sa. 17. Lyon, Mo. 19. Bordeaux, Mi. 21. Santander, Sa. 31. San Sebastian, Mi. 4., Do. 5., Fr. 6.4. London
Es treibt ihm einen angenehm lockernden Schauer in den Rücken, wenn er am Telefon bestimmt und abweisend sein kann. Besonders bei Frauen. So war es auch diesmal wieder gewesen; er hatte sich gesträubt: Was, in zwei Wochen schon? Unmöglich! Er kann Annette nicht einfach sieben Wochen allein zu Hause sitzen lassen! Und warum überhaupt er , haben die anderen alle abgesagt? Außerdem: Er kann nicht über eine so lange Zeit jeden Abend spielen. Dann wird sein Rheuma unerträglich.
Es kommt auf die Länge der Leitung an, ob sein Bluff, irgendwo zwischen Bescheidenheits-Koketterie und sadistischer Kompliziertheit, den oder die am anderen Ende für längere Zeit hilflos zappeln lässt. In diesem Fall Ina. Es drängt sich ihm (in Bezug auf Ina) das Bild einer lachhaften chaplinesken Figur auf, die von einem riesigen, bulligen Pickelgesicht (ihm selbst) hinten am Jackenkragen hochgezogen wird. Ina hat, sagt sie knapp, im Augenblick andere Sorgen und keine Zeit für seine Spiele: Ich kann diese Arie zweistimmig und in sämtlichen Tonarten. Tja, schade, Mensch, vielleicht nächstes mal. Ciao.
Zehn Minuten später ruft er Annette an: Stell dir vor, Ina will mich in ihrer Band mitnehmen. Wir spielen in ganz Europa!
Eine Jazzband ist ein Arbeitsverhältnis. Eine Produktionsgruppe auf Montage. Montage, Dienst-Tage, Frei-Tage. Eine Tour ist der letzte melancholische Versuch, dieses schwierige, fast unmögliche Produktionsverhältnis durch geographische Ausweitung erträglich zu machen, indem man es auf möglichst viele verschiedene Orte in möglichst schneller Abfolge verteilt, damit es keiner mehr merkt.
*
Sie kommen früh in Goslar an, was bedeutet: noch bei Tageslicht, und vom Hotel Kaiserworth am Marktplatz, von wo es nur einen Steinwurf oder einen Weltrekord im Weitspucken bis zum Club ist, schlendern sie in die schmale belebte Geschäfts-Passage. Dann decken sie sich mit Proviant für die nächsten Tage ein. Lucius kauft gern eine intensiv riechende Zahncreme, die lange vorhält: Ah, Ajona, hatte ihn Birgit in der Oberprima begrüßt, du riechst lecker. Ja, damals war er der erste! Heute glaubt er, davon Zahnfleischbluten zu bekommen.
Unter dem Vordach bei Karstadt steht nun Lucius und bewacht die Kartons, derweil die anderen, was sie in jeder Stadt tun, die Musikläden nach irgendwelchen Instrumenten und technischen Neuheiten abklappern, die es – warum bloß? – in Hannover vielleicht noch nicht gibt. Zwanghaft und lächerlich, findet Lucius, der gern mitgegangen wäre. Aber irgendwer muss ja auf die Sachen aufpassen! Insgeheim glaubt er nämlich doch an den kleinen Provinzladen, in dem es in einer verstaubten Ecke die Ludwig Snare für zweihundertfünfzig Ocken gibt.
Der alte dicke Penner mustert ihn, sieht auf die Kartons, wieder zu ihm: Ich war die letzten Jahre ein paarmal drüben in Polen, sagt er, es wird besser. Ihr seid ehrgeizig und fleißig, und es wird nicht mehr lange dauern, dann habt ihr auch, was wir haben. Dann braucht ihr nicht immer rüberkommen und uns die Sachen wegkaufen. Aber, obwohl wir uns gerade so nett unterhalten, möchte ich zum Geschäftlichen kommen: Haste mal'n Euro?
Die Enge von Kleinstädten wie dieser – ganz abgesehen von ihrer liebenswürdig rauh-romantischen Ausstrahlung – hat hinter der vordergründigen Idylle ihrer zuckerguss-verkleisterten Hexenhäuschen-Fassaden für ihn immer etwas undeutlich Bedrückendes. In einer ähnlich dichten, dornigen Neurosenhecke war auch Lucius, als er noch Dieter hieß und von seinen Freunden seiner immerwährenden Unzufriedenheit mit allem und jedem wegen »der kleine Nölprinz« getauft wurde, lange nach der Schulzeit hängengeblieben, ehe ihn dann Nerea wachküsste und nach Heidelberg holte.
Rainer lebt immer noch in der Kleinstadt, in der sie beide aufgewachsen waren, fast vierzig, bei seinen steifen Eltern in einer winzigen Mansarde mit schrägen Wänden. Auch er hatte Berufsmusiker werden wollen, übt seit zwanzig Jahren sechs Stunden am Tag Gitarre und traut sich nicht mehr auf die Bühne, weil er sicher ist, nicht gut genug zu sein. Es gibt jetzt in ihrem Ort, hatte Rainer kürzlich geschrieben, einen Jazz-Verein mit einem dicken Boogie-Woogie-Pianisten als Erstem Vorsitzenden, der in der Zeitung verbreiten ließ, das Jazzpodium habe ihn einst zum drittbesten Jazz-Pianisten des Landes gekürt, und der gegen ihn, Rainer, ein »Vereinsausschluss-Verfahren wegen vereinsschädigenden Verhaltens« angestrengt habe – aufgrund der unbewiesenen (aber von jemand, der sich nicht zu erkennen gab, angeblich bezeugten) »unglaublichen Unverschämtheit«, dass er, Rainer, nachts betrunken in einer Kneipe über ihn, den Ersten »Vorschwitzenden«, hergezogen habe. An den genauen Wortlaut seiner dreisten Beleidigungen konnten sich weder der anonyme Zeuge noch der Vereinsvorstand erinnern. Nur habe man ihn in Verdacht gehabt, er habe bei »Jazz vom Feinsten« auf den Plakaten des Boogy-Virtuosen überall das N ausgestrichen. Er sei zuvor, beteuerte Rainer, der Vereinsspitze lediglich dadurch unangenehm aufgefallen, dass er einige brauchbare Vorschläge gemacht habe, wie die Organisation mehr Mitglieder gewinnen, bessere Pressearbeit leisten und eine demokratische Entscheidungsfindung unter den Mitgliedern per Umfrage erzielen könnte. Außerdem hatte die Provinzpostille seine, Rainers, früheren Erfolge als Musiker in einem Artikel über die städtische Musikszene gewürdigt und erwähnt, dass er mit berühmten Musikern des internationalen Jazz zusammengespielt habe (was den Tatsachen entspricht). Leider habe der Redakteur in seinem Artikel versäumt, die Neugründung des Vereins hervorzuheben und den Ersten Vorsitzenden wenigstens namentlich, wenn nicht gar lobend, zu erwähnen.
Читать дальше