„Ist ihre Frau auch Germanistin?“ Er wollte näher an diesen Mann. Er wollte eine Beziehung zu diesem Mann. Er wusste nicht, ob der Mann ihm das übel nahm. Ob er das unpassend fand. Er sagte zunächst nichts und Florian war entsetzt. Wie hatte er so etwas sagen können. Aber dann sagte der Mann:
„Meine Frau hat bei einem Verlag gearbeitet. Jetzt ist sie zu Hause. Wir haben zwei Söhne. Um die muss sie sich kümmern. Sie würde gern wieder arbeiten.“ Vielleicht freute es den Mann, dass Florian sich für ihn interessierte.
„Wir haben uns Sorgen gemacht, als sie sich vertreten ließen.“ Der Mann lächelte.
„Ich schreibe an einem Buch. Ich brauchte etwas Ruhe. Ich kam nicht voran.“
„Und jetzt geht es voran?“
„Es sieht so aus.“ Der Mann stand auf und drückte Florian die Hand und sah ihn anerkennend an. Florian hatte jedenfalls so ein Gefühl. Er war sich nicht ganz sicher.
Er stand vor dem Institut. Er war so glücklich. Er hatte mit dem Mann gesprochen. Mit dem großen Mann. Daran war kein Zweifel. Ein großer Mann. Und so zugewandt. Fast wie ein Vater. Die Söhne waren zu beneiden. Die Gespräche mit diesem Vater. Das musste schön sein.
Florian gab seine Examensarbeit ab. In den letzten Tagen hatte er bis in die Nacht hinein gearbeitet. Nun war es geschafft. Und dann begann das Warten. Und dann kamen die Zweifel. Wie würde sie bewertet werden? Würde sie abgelehnt werden?
Florian hatte sechs Wochen gewartet und nichts hatte sich getan. Schließlich ging er zur Sekretärin und erkundigte sich nach seiner Examensarbeit. Sie lag noch bei W.H. Er hatte sie der Sekretärin noch nicht zurückgegeben. Florian wartete weiter. Und dann fand er einen Brief von der Universität vom Institut. Von W.H.
Gutachten zur Examensarbeit von Florian L.: Die Arbeit ist sehr umfangreich und sehr sorgfältig ausgeführt. Sie gründet sich auf ein ausführliches Studium der Literatur. Die Problematik ist richtig erfasst und dargestellt. Eine Reihe kreativer Gedankengänge sind in die Arbeit eingegangen. Leider ist es nicht gelungen, die Schlussfolgerungen logisch zu begründen. Deshalb kann die Arbeit nur mit „genügend“ bewertet werden.
Florian hatte sich setzen müssen. Eine Unruhe hatte ihn erfasst. Und Angst. Die besonders. Was sollte aus ihm werden? Er hatte versagt. Mit einem „genügend“ hatte er keine Aussichten. Wo sollte er sich mit einem „genügend“ bewerben? Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich im Institut von W.H. zu bewerben. Das war nun völlig ausgeschlossen. Er konnte diesem Mann nie wieder unter die Augen treten. Er hatte ihn nach seiner Frau gefragt. Was hatte er sich herausgenommen? Wie falsch hatte er sich eingeschätzt. Er war unter den Studenten ganz hinten. Er war nicht vorn, wie er angenommen hatte. Er ging einige Tage nicht zu den Vorlesungen. Die anderen Studenten wussten von seiner Niederlage. Er konnte ihnen nicht in die Augen sehen.
Es gab eine Veranstaltung im Hauptgebäude der Universität. Die Freundschaft mit Cuba wurde gefeiert. Florian wollte nicht hingehen. Aber dann ging er doch. Über dem Eingang ein Transparent. In den Gängen viele Studenten. Die Hörsäle geöffnet. Eine Ausstellung über Cuba. Eine Ausstellung über die Beziehungen der Universität zu Cuba. In mehreren Räumen wurde getanzt. Mehrere Mädchen saßen in einem Raum am Rande der Tanzfläche. Florian forderte ein Mädchen auf. Es war ein Tanz, den er kannte. Sie tanzten gut zusammen.
„Am Tage rennt man von einer Vorlesung zur anderen. Und nun ist hier Musik.“
„Ich bin selten hier“, sagte das Mädchen. „Ich studiere Pädagogik.“
„Deutsch und Geschichte?“
„Deutsch und Sport.“
Das Mädchen hatte glatte dunkelblonde Haare, die hinten zusammengebunden waren. In ihren Augen viel Ausdruck. Freundlich, aber zurückhaltend. Eine einfache weiße Bluse. Die Kapelle machte eine Pause.
„Was machst du?“ sagte das Mädchen.
„Germanistik“.
„Ich wollte auch Germanistik studieren. Es hat nicht geklappt.“
„Bist du zufrieden?“
„Es geht so. Ich mache bald Examen. Ich habe viel zu tun.“
„Ich hatte viel zu tun. Meine Examensarbeit ist fertig.“ Das Mädchen sah Florian anerkennend an.
„Ich wäre froh, wenn ich auch fertig wäre.“
Sie gingen durch die Gänge von einem Hörsaal zum anderen. In einem Raum war von Studenten eine Bar eingerichtet. Sie kauften sich beide etwas zu trinken und setzten sich an einen der kleinen Tische. Florian war irgendwie froh. Er fühlte sich erleichtert. Die Last der letzten Wochen wich von ihm. Ein Mädchen, das an ihm interessiert war. Es gab einen Menschen, der an ihm interessiert war.
„Was bist du für ein Mensch?“ sagte er. Er wusste, dass diese Frage nicht zu beantworten war. Trotzdem konnte die Antwort aufschlussreich sein. Das Mädchen sah ihn an und lächelte freundlich.
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Was bin ich für ein Mensch. Im Unterricht müssen die Schüler Charakteristiken schreiben. Von Wilhelm Tell und Wallenstein. Über sich selbst denkt man nicht nach. Merkwürdig. Was bist du für ein Mensch?“
„Ich bin bescheiden.“ Das Mädchen stutzte.
„Das habe ich noch nie gehört. Wie kommst du darauf?“
„Ich halte mich zurück. Wenn ich mit Menschen zusammen bin, sage ich nicht viel. Mir fällt nichts ein. Nichts von Bedeutung. Nichts, das sich lohnt zu sagen.“ Florian wusste nicht, woher das Vertrauen gekommen war, so mit dem Mädchen zu sprechen.“
„Das zeigt eine andere Eigenschaft. Du bist aufrichtig. Du schätzt dich so ein, wie du wirklich bist. Das kommt nicht oft vor. Viele machen sich etwas über sich vor.“
„Das ist nett, dass du das sagst.“ Florian sagte sonst nicht solche Worte. Es war auch etwas Ironie dabei. In Wirklichkeit meinte er es ernst.
„Hast du Sorgen?“
„Ja.“
„Willst du mir etwas darüber sagen?“ Florian hatte ein solches Vertrauen zu dem Mädchen. Das Vertrauen war gekommen und war jetzt da.
„Ich habe keine gute Examensarbeit geschrieben. Ich habe nur „genügend“ bekommen. Dabei verehre ich unseren Professor. Ich wollte mich bei ihm bewerben. Nun ist das vorbei.“ Er saß jetzt da in seiner ganzen Niedergeschlagenheit. Seine Schultern waren nach vorn gezogen. Der Kopf nach vorn gebeugt. In diesem Moment geschah etwas. Etwas Unglaubliches. Das Mädchen hob seine rechte Hand zu seinem Kopf und strich über diese Seite seines Kopfes. Er fühlte diese Hand an seinem Kopf. Es war eine ganze Welt, die sich ihm öffnete. Eine wunderbare Welt. Die Welt dieses bisher fremden Menschen. Er zog das Mädchen an sich und suchte den Mund des Mädchens und fand ihn und wurde nicht abgewiesen. Der Mund öffnete sich ihm. Dann entfernten sich die beiden Köpfe und sahen sich erstaunt an. Der junge Mann sah in die Augen des Mädchens und das Mädchen sah in die Augen des jungen Mannes. Was hatte das zu bedeuten? Was wollte der andere damit sagen? Wie war es dazu gekommen?
Sie standen auf und gingen langsam weiter. Sie hatten sich untergehakt. Sie gehörten jetzt zusammen. Für eine unbestimmte Zeit. Aber zumindest für diesen Abend.
Sie holten ihre Mäntel und standen dann vor dem Hauptgebäude der Universität. Sie gingen an den beiden alten Herrn vorbei, die da schon sehr lange saßen. Auf der Straße waren nicht viele Autos. Es war einfach spät. Nach Mitternacht. Sie hatten sich wieder untergehakt und gingen langsam die breite Straße entlang. Sie bogen um die Ecke und kamen in die kleineren Straßen mit den kleineren Häusern. In der Straße, die nach dem berühmten Dichter benannt war, blieb das Mädchen stehen. Sie wohnte hier. Sie küssten sich, und während das Mädchen im dunklen Hauseingang verschwand, ging Florian zur nächsten S-Bahnstation. Er war so froh. Er war lange nicht so froh gewesen. Irgendwie hatte er zu sich gefunden. Er würde wieder mit sich leben können. Hoffte er.
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