Am nächsten Morgen erwachte Florian. Es war ein Sonnabend. Er war für den Abend verabredet. Mit der Krankenschwester. Im Schwesterheim. Dieser Körper einer jungen Frau. Dann war die vergangene Nacht da. Diese ausdrucksvollen Augen. Diese dunkelblonden glatten Haare. Diese Worte. Wie Perlen. Diese Bewegungen. Und dann dieser Moment, als sie ihre Hand seinem Kopf näherte und er die Berührung fühlte. Er wollte diese andere junge Frau nie enttäuschen. Sie hatte ihm ihren Körper gelassen. Sie war enttäuscht worden. Er würde sie nicht enttäuschen. Er hatte noch Zeit. Er sah auf die Uhr. Fast neun Stunden. Eine lange Zeit. Er würde der Entscheidung Zeit lassen. Er musste sich nicht sofort entscheiden. Er machte sich etwas zu essen und nahm ein Buch. Er konnte nicht lesen. Er hatte diese Sache vor sich. Würde er fahren oder würde er nicht fahren? Wenn er nicht fuhr, war es zu Ende. Er hatte nicht gesagt, wo er wohnte. Sie würde ihn nicht finden. Würde sie ihn suchen? Sie würde auf ihn warten. Sie würde erstaunt auf die Uhr sehen. Er war immer pünktlich gewesen. Er hatte sich nie verspätet. Gleich würde es klingeln, und sie würde nach unten gehen und ihm öffnen. Sie würde ihn an sich drücken und seinen Mund suchen. Und wenn sie dann seinen Körper an dem ihren fühlte, würde sie alles vergessen haben. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie hatte. Mehr hatte sie nicht. Florian war sich jetzt sicher. Er musste gehen. Er würde diese andere junge Frau vergessen. Sie hatten sich verabredet. Sicher. Es war nur ein Abend gewesen. Ein schöner Abend. Die Nacht hatte sich geöffnet zu einem neuen Leben. Einem Leben voller wunderbarer Geheimnisse. Die junge Frau hatte die Faszination ihres Geschlechts. Sie hatte das, was Männer verrückt machte. Etwas, was Männer nicht hatten und immer suchten. Nicht alle Männer. Es gab welche, die hatten kein Gefühl dafür. Florian hatte dieses Gefühl. Er stand an einer Gabel seines Weges. Noch nie hatte er das so empfunden. Würde die andere Frau weinen? Würde sich ihr Gesicht verkrampfen, wie damals als sie von diesem Arzt gesprochen hatten? Und dann würde sie leise vor sich hin weinen.
Die Zeit war vergangen. Er war nicht gefahren. Er hatte jetzt ein Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben. Er hatte sich entschieden, und er fühlte sich auch so. Er hatte sein Leben in seine Hand genommen. Genau im richtigen Moment. Er fühlte eine Schwäche in sich. Eine große Schwäche. Als wäre er meilenweit gelaufen und nun am Ende seiner Kräfte. Er schlief ein. Er träumte wirre Träume. Als er erwachte, war es dunkel. Er war nicht mehr so froh, wie er geglaubt hatte.
Es dunkelte schon etwas als Florian in der Straße stand, die nach dem berühmten Dichter benannt war. Er hatte das Haus wiedergefunden, vor dem er sich in der Nacht von dem Mädchen verabschiedet hatte. Die Haustür war noch geöffnet. Er ging die Treppe hinauf. Eine Tür ging auf. Eine junge Frau kam heraus. Sie hatte die ausdrucksvollen Augen und das glatt nach hinten gekämmten dunkelblonde Haar.
„Da bist du“, sagte die junge Frau. Florian war erleichtert.
„Ich bin froh, dass ich das Haus wiedergefunden habe. Es war dunkel als wir uns verabschiedet haben. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Nicht auszudenken.“
„Wir hätten uns schon wiedergefunden.“
„Sind wir füreinander bestimmt?“ Die junge Frau sah ihn lächelnd an.
„Das wird sich zeigen.“
„Es sieht doch gut aus. Oder?“
„Vielleicht.“
Sie gingen die Straße entlang. Die junge Frau hatte ein dunkelblaues Kostüm an. Florian hatte nur Jeans und eine Jacke an. Er kam sich nicht richtig angezogen vor.
„Du hast dich so fein gemacht. Hast du etwas vor?“
„So kann man das nennen.“ Florian war jetzt etwas unruhig. Was hatte das zu bedeuten?
„Was muss ich tun?“
„Du musst nichts tun. Nur zuhören. Wenn du willst.“ Sie gingen durch mehrere Straßen und blieben vor einer Kirche stehen.
„Hier ist es. Kommst du mit?“
„Wenn ich darf.“ Die junge Frau in ihrem dunkelblauen Kostüm ging voran. In der Kirche war es dunkler als auf der Straße. Sie drehte sich zu Florian:
„Bis später.“ Florian setzte sich in eine Bank. Er sah jetzt, dass die Kirche etwa zur Hälfte mit Besuchern gefüllt war. Und dann kam der Chor. Frauen in dunkelblauem Kostüm. Auch die Chorleiterin. Das Konzert begann. Zunächst ein Choral von Bach dem Vater. Florian suchte die junge Frau. Sie stand in der zweiten Reihe ganz links. Er hatte nur Augen für sie. Er konnte sie beobachten. Er konnte ihre Stimme in der Masse der Töne nicht hören. Alle hatten Notenblätter in der Hand. Sie muss sich konzentrieren, dachte er. Die Chorleiterin hört jede Stimme. Er sah die anderen Frauen kaum an. Es waren jüngere und auch ältere. Die junge Frau und ihre Nachbarin sahen sich manchmal an. Sie schienen sich zu kennen. Die Stimmen der Frauen gefielen Florian. Es gab ein Lied, das ihn rührte. Das Schönste war die junge Frau. Die er in der Nacht geküsst hatte. Die „Vielleicht“ gesagt hatte. Mit der er so gut sprechen konnte. Die wieder Freude in sein Leben gebracht hatte. Sein Leben, aus dem die Freude verschwunden war. Es gab eine Pause, in der der Chor durch eine Seitentür verschwand. Und dann war Schluss und viel Beifall. Die Sängerinnen gingen auseinander zu ihren Angehörigen und Freunden. Die junge Frau kam durch den Hauptgang auf ihn zu. Neben ihr die Frau, die im Chor neben ihr gestanden hatte.
„Das ist Bettina. Sie passt auf mich auf, wenn wir singen.“ Sie gaben sich die Hand. Die Frau war etwas älter als seine junge Frau. Vielleicht drei oder vier Jahre. Oder fünf. Sie gingen zusammen aus der Kirche auf die Straße, die jetzt dunkel war. Bis auf die Straßenlaternen. Sie gingen nebeneinander. Die andere Frau lächelte Florian an. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn beobachtete. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie war wohl neugierig auf den jungen Mann von dem ihr erzählt worden war. Bald standen sie vor dem Haus der jungen Frau.
„Kommt ihr noch mit rauf?“ Die etwas ältere Frau war einverstanden und Florian sowieso. Sie gingen die Treppe hinauf und dann standen sie in dem Korridor der Wohnung und schließlich in dem Zimmer der jungen Frau. Es war richtig eingerichtet. Ein Regal mit Büchern. Florian kannte einige. An der Wand Zeichnungen. Sie setzten sich um den flachen Tisch. Drei Gläser. Ein Flasche mit Rotwein. Sie prosteten sich zu.
„Sie sind also nun Florian“, sagte die etwas ältere junge Frau. Florian nickte.
„Studieren sie auch?“ sagte Florian.
„Ich habe studiert. Jetzt bin ich bei einem Verlag.“
„Gefällt ihnen die Arbeit?“
„Es ist ein kleiner Verlag. Er bringt nur Kunstbände heraus.“
„Das würde ich auch gern machen.“
„So interessant ist das nicht. Viel Routine.“
„Kennen sie sich schon lange?“
„Wir haben uns im Chor kennen gelernt. Wir haben unsere Plätze nebeneinander.“
„Das ist mein Glück“, sagte die junge Frau. „Ohne dich wäre ich schon lange rausgeflogen.“
„Das stimmt nicht. Du hast eine schöne Stimme.“
„Es muss schön sein, zusammen in einem Chor zu singen“, sagte Florian. „Frauenstimmen klingen wunderbar.“
„Jetzt verstehe ich, dass Vera sie mitgebracht hat. Sie sind ein Mann der Komplimente. Diese Männer sind besonders gefährlich.“
„Meine Freundin ist geschieden“, sagte die junge Frau. „Sie hat keine guten Erfahrungen gemacht.“
„Sehen wir uns am Sonntag zum Gottesdienst?“ sagte die etwas ältere junge Frau.
„Ich glaube nicht. Ich habe noch viel zu tun wegen meiner Klausur.“
„Schade. Ich freue mich, wenn du mitkommst. Sind sie religiös?“ Sie hatte sich an Florian gewandt. Florian befürchtete einen Moment, die beiden seien religiös.
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