„Nein.“
Martina überlegte: Sie hatte vorgehabt, Michael in einer der Zellen zu verwahren. Da die Station aber nur wenige davon hatte, die sich alle im selben Gang befanden, kam es ihr widerlich vor, den Mann die Nacht neben Michael verbringen zu lassen.
„Ich bin sofort wieder da.“
Sie ging zurück nach oben. Ihr Büro lag im vierten Stock. Hinter den Fenstern ging die Fassade glatt herunter. Keine Chance zu klettern. Sie holte ihren Schlüsselbund hervor, schloss ab und testete die Tür. Wie üblich war sie billig und dünn, damit sperrte man niemanden ein. Aber auf dem Gang stand doch der Getränkeautomat! Sie rückte die Maschine unter gewaltiger Anstrengung neben die Tür. In der leeren Wache kam ihr der Krach, den sie damit verursachte, vor, als müsste die ganze Stadt sie hören.
Zurück im Zellentrakt, teilte sie dem Mann mit:
„Sie werden verlegt.“
„Was? Wieso verlegt? Ich sollte schon draußen sein.“
„Darüber reden wir morgen.“
Sie zog ihre Waffe und entsicherte sie.
„Ich werde sie nun rauslassen, dann gehen wir beide nach oben. Wenn Sie irgendwas versuchen, wird das Konsequenzen haben, die Ihnen nicht gefallen werden.“
„Aber ...“
„Verstanden?“
„Aber ich …“
„VERSTANDEN?“
„Schon gut. Verstanden.“
Martina öffnete die Zellentür und ließ ihn voran gehen. Sie dirigierte ihn bis in ihr Büro, nahm eine Schachtel Kekse, die sie als Notvorrat in einer Schublade aufbewahrt hatte, und warf die ihm hin. Dann zog sie auf dem Gang eine Apfelschorle, stellte die Flasche in den Raum, schloss die Tür und rückte den Getränkeautomat davor.
„Ich sehe morgen nach Ihnen“, versprach sie und beeilte sich, zurück zum Wagen zu kommen, um nach den Kindern zu sehen.
Ihre Sorge war unbegründet. Die Türen des Wagens waren verriegelt, die Geschwister schliefen auf der Rückbank, Lea im Arm ihres Bruders. Martina entschied, sie dort zu belassen und sich zuerst um Michael zu kümmern. In der Wache fand sie einen großen Aktenwagen, den sie vor der Kofferraumhaube parkte. Als sie den Kofferraum öffnete, wurde sie mit einem Fauchen belohnt.
„Na, freust Du Dich auch, mich zu sehen?“
Er stöhnte dumpf unter dem Stoffsack und versuchte, sie trotz seiner Fesseln zu erreichen. Martina versuchte ihn aus dem Kofferraum und auf den Aktenwagen zu bugsieren, doch es war aussichtslos. Er war einfach zu schwer und sein ständiges Gehampel machte es nicht leichter. Kurz überlegte sie, ihn einfach an Ort und Stelle zu lassen. Aber wie sollte sie das seiner Frau Jana erklären? Was sollte sie ihr überhaupt sagen?
Das Geräusch der Autotür schreckte sie auf. Ferdinand stieg aus dem Wagen und rieb sich das Gesicht. Martina schlug die Kofferraumhaube zu und sah ihn an.
„Na, gut geschlafen?“
Er zuckte die Achseln. „Lea schläft noch.“
„Lassen wir ihr noch eine Weile. Und Du solltest auch wieder einsteigen, ich habe hier noch was zu tun.“
Ferdinand ging ums Auto und deutete auf den Kofferraum. „Da drin ist ein Beißer, oder?“
„Er ist mein Kollege.“
„Oh.“ Ferdinand deutete auf den Aktenwagen. „Soll ich helfen?“
„Auf keinen Fall – weißt du überhaupt was du da sagst?“
„Da ist ein Infizierter im Kofferraum und Lea schläft im selben Wagen. Wir müssen schnell einen Platz zum Schlafen in der Wache finden, weil hier bald noch mehr Infizierte auftauchen könnten. Weil der Infizierte im Kofferraum Ihr Kollege ist, wollen Sie ihn mitnehmen.“
Martina starrte ihn an. „Wie alt warst Du nochmal?“
„Ich bin fast fünfzehn“, sagte Ferdinand stolz.
Was soll's, Kindheit war vor der Infektion.
„Also gut. Dann nimm seine Beine.“
Martina öffnete den Kofferraum und Ferdinand sog hörbar Luft ein.
„Wir können jederzeit abbrechen.“
„Schon ok, los jetzt.“
Er packte Michaels Beine und gemeinsam hoben sie ihn trotz heftigen Strampelns auf den Aktenwagen und Martina fixierte ihn mit Handschellen an Händen und Füßen. Unter Stöhnen und Fauchen schoben sie ihn in das Gebäude. Die Treppe hinunter zum Gefängnisbereich war nochmal ein Kraftakt, dann stand Michael endlich in seiner Zelle. Martina schickte Ferdinand zurück ins Treppenhaus, bevor sie Michaels Handschellen öffnete. Er ging sofort auf sie los. Sie verwarf den Gedanken, ihn auch von den restlichen Fesseln und dem Sack zu befreien, stieß ihn zurück und schloss ihn in der Zelle ein.
Lea war wach und hatte Angst, weil sie so plötzlich allein in einem fremden Auto saß, als sie zurückkamen. Ferdinand konnte sie jedoch schnell beruhigen. Im Ruheraum der Polizeiwache standen ein paar Liegen, zu denen Martina die Kinder führte. Danach plünderte sie den Getränke- und Süßigkeitenautomaten, trug alles zu den Geschwistern und verschloss die Tür zum Pausenraum von innen. Ferdinand und Lea fielen über Schokoriegel und Weingummis her, Martina fielen die Augen zu, sobald sie sich gesetzt hatte und sie schlief ohne einen Bissen zu essen ein.
Am nächsten Morgen wurde Martina von Leas Weinen geweckt. Ihr Bruder hielt sie im Arm und streichelte ihren Kopf. Martina wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Diese Kinder hatten letzte Nacht nicht nur ihre Eltern verloren, sondern auch ihr gesamtes Leben, ihr Weltbild, einfach alles.
Also sagte sie nur „Bin gleich wieder da.“ und verließ das Zimmer. Michael hielt sie für sicher verwahrt, daher holte sie nochmal Snacks und eine Flasche Limonade aus dem Automaten und ging nach dem Gefangenen in ihrem Büro sehen. Als sie eintrat, saß er hinter ihrem Schreibtisch und las einen Fallbericht.
„Einer Ihrer Kollegen?“, wollte Martina wissen.
Er lachte. „Nein, ein Mordfall. Ich bin nur ein kleiner Fisch.“
Martina legte Limonade und Schokoriegel auf den Tisch. „Ihr Frühstück. Warum hat man Sie eingesperrt?“
Der Mann griff zu einem Snickers und biss hinein. „Gras“, sagte er kauend, „ich habe etwas gedealt.“
„Sie sind jetzt frei.“
Er sah sie zwischen zwei Bissen an. „Frei? Um wohin zu gehen? Was zur Hölle ist da draußen los? Warum war es die ganze Nacht dunkel? Keine Laternen und so? Wo sind alle Leute? Und Autos?“
„Wie lange haben Sie dort unten gesessen?“
„Zwei Tage.“
„Oh.“
Martina berichtete ihm von der Infektion, vom Chaos in der Stadt. „Ich denke, dass sie den Strom abgedreht haben – Ausnahmezustand und so“, endete sie.
„Aber warum gibt es hier Licht?“
„Die Wache hat einen eigenen Notgenerator. Aber bestimmt haben sie die normalen Kraftwerke dicht gemacht, um keine Infizierten darin zu riskieren.“
„Wieso kommt keine Hilfe? Wo sind denn ihre Kollegen?“
„Das versuche ich rauszufinden. Kommen Sie mit, wenn Sie wollen.“
Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang. Im Stockwerk unter ihnen befand sich die Einsatzleitstelle. Dort liefen auch Berichte und Meldungen aller Dienststellen des Landes ein. Der gefangene Dealer folgte ihr. Sie glaubte ihm, dass er nur ein kleiner Fisch war. Martina hatte viele Gewaltverbrecher erlebt und von diesem Mann hier schien keinerlei Aggression auszugehen. Trotzdem nahm sie sich vor, wachsam zu bleiben.
„Wo wir jetzt sozusagen im selben Boot sitzen – wie heißen Sie eigentlich?“
„Martina Kraft. Und wir sitzen NICHT im selben Boot. Ich teile mein Boot nicht mit Dealern.“
„Hey, es war nur ein bisschen Gras, ok!?“ Er streckte ihr seinen tätowierten Arm hin. „Ich bin Oliver Fuchs. Die meisten sagen „Olli“.“
Sie nahm seine Hand und schüttelte sie. Sein Händedruck war kräftig und warm.
Der Computer der Leitstelle war an den Notstrom angeschlossen und surrte vor sich hin. Martina loggte sich ein und überflog die aktuellsten Meldungen. Alle drehten sich um die Infektion:
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