Vom Marmorhof aus führte ihr Weg sie über den Königshof. Obwohl sie die Teller zurückgelassen hatte, wog der Korb ziemlich schwer. Trotz der kühlen Dezemberluft stiegen ihr die Gerüche daraus in die Nase, vor allem die des gebratenen Geflügels.
Marie Thérèse hatte den Königshof halb überquert und überlegte gerade, wie sie an den Wachen vorbei kommen sollte, die am Eingang zum nächsten Hof, dem Hof der Minister, postiert waren, als eine entgegenkommende Kutsche ihre Gedanken unterbrach. Sie wich beiseite und starrte wie gebannt die Pferde an. Ungewöhnlich rasant war die Kutsche in den Königshof eingefahren und stoppte nun so abrupt, dass die vier Rösser sich kurz aufbäumten und erregt schnaubten. Schweiß glänzte auf ihren dunklen Leibern, und das Weiß ihrer Augen blitzte auf. Die Prinzessin verfolgte, wie der Gesandte Mercy aus der Kutsche sprang, noch ehe deren Räder vollständig zum Stillstand gekommen waren. Mit großen Schritten eilte er über den Königshof und verschwand dann im Eingang zum Herkulessaal, der im äußersten Ende des Nordflügels gelegen war. Von Marie Thérèse nahm keiner Notiz. Wie hätte man sie auch zu dieser Zeit hier vermuten können?
Warum nur hatte Mercy es so eilig? Was mochte geschehen sein, dass er es ihren Eltern unbedingt noch heute Abend mitteilen musste?
Marie Thérèse beschloss, ihr Vorhaben zu verschieben, ließ den schweren Korb stehen und folgte dem Gesandten.
Herumstreunende Pariahunde und Katzen waren auch arm und würden sich über den Inhalt freuen.
Ungeduldig wartete sie, bis die Diener beidseits der Tür zum Herkulessaal sich zurückgezogen hatten, zog vorsichtig den großen Schlüssel aus dem Loch und spickte hindurch. Die Eltern hatten Mercy bereits empfangen. Als Marie Thérèse sah, wie aufgeregt ihr Vater vor dem goldverzierten Marmorkamin hin und her schritt, konnte auch sie ihre Füße nicht mehr ruhig halten und trat auf der Stelle. Die Mutter dagegen stand da wie erstarrt, das Gesicht noch bleicher als sonst durch den Puder. Doch was das Kind am meisten beunruhigte, war ihr trauriger Blick. „Und Sie meinen wirklich, dass es jetzt schon geschehen soll?“, fragte sie den Gesandten.
„Ich habe eine geeignete Familie gefunden und mit Verlaub...“ Mercy brach ab, rang sichtlich um die richtigen Worte. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich fürchte, es wird Ihnen schwerer fallen, je länger Sie es hinauszögern.“
Abrupt stoppte Louis XVI. und wandte sich dem Gesandten zu. „Sie haben recht, und da unsere Entscheidung nun mal getroffen ist...“ Redegewandtheit war dem König nicht in die Wiege gelegt worden. Als ihm seine Gemahlin nun auch noch eine Hand auf den Arm legte, wusste er gar nichts mehr zu sagen. „Ich weiß“, begann sie, „auch, dass man es nicht mehr rückgängig machen kann.“
Marie Thérèse erschrak noch heftiger, als sie das Zittern in der Stimme ihrer Mutter vernahm. „Wovon redeten sie bloß? Sie verstand kein Wort.“
„Dennoch“, fuhr Marie Antoinette fort. „Es ist zu früh. Er ist noch nicht kräftig genug für eine so weite Reise.“
Von wem sprachen sie nur? Die Prinzessin zermarterte sich ihren Kopf. Wer sollte verreisen, und warum besorgte sich die Mutter so darüber?
Vor lauter Grübeln vergaß sie jede Vorsicht und ließ vor Schreck den Schlüssel fallen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Frau von Mackau schaute auf sie herab, mehr erstaunt als erzürnt. „Madame Royale, warum liegen Sie nicht in Ihrem Bett?“
Die Kleine war viel zu verblüfft, um darauf eine wohlüberlegte Antwort geben zu können. Sagte sie, sie habe nicht schlafen können, so würde die Gouvernante sofort die Ärzte holen. Aber etwas anderes fiel ihr nicht ein. Also schwieg sie und ließ sich in ihr Schlafgemach führen.
Darin sah Frau von Mackau sich erstaunt um. „Wo sind denn Ihre Nachtmahlzeiten?“
„Die habe ich verzehrt“, sagte Marie Thérèse in das ungläubige Gesicht ihrer Gouvernante und fügte schnell hinzu: „Dafür sind sie doch da, oder?“
Frau von Mackau konnte nur den Kopf schütteln. „Sie kommen offenbar sehr nach Ihrem Vater, Madame Royale.“ Noch immer kopfschüttelnd verließ sie den Raum.
Weil sie den merkwürdigen Dialog zwischen ihren Eltern und dem Gesandten Mercy nicht verstand, ja, nicht einmal den geringsten Ansatzpunkt dafür hatte, ließ der Schlaf ihn Marie Thérèse noch in selber Nacht vergessen.
Frau von Mackau dagegen hatte vorsorglich den Ärzten vom ungewöhnlichen Appetit der Prinzessin berichtet. Kaum schlug diese am nächsten Morgen ihre Augen auf, als sie auch schon anrückten, bestückt mit Klistieren. Marie Thérèse zog sich die Bettdecke über den Kopf und rollte sich so klein wie möglich zusammen. Sie hasste Einläufe. Warum hatte sie der Gouvernante auch nicht die Wahrheit gesagt, wenigstens die halbe? Aber wie hätte sie dann das Verschwinden der Gerichte erklären können? Die konnten ja nicht von selbst weglaufen, und ihr war es nun mal streng untersagt, nach Einbruch der Dunkelheit alleine das Schloss zu verlassen.
Während es in ihren Gedärmen zu grummeln begann, beschloss Marie Thérèse inbrünstig, nichts Ungehöriges mehr zu tun.
Monatelang hielt sie durch. Als der harte Winter sich dem Ende zuneigte und die Tage mit mehr Licht auch wieder mehr Freiheit brachten, keimte nicht nur in ihr neue Lebensfreude auf. Man hatte ihr erzählt, sie habe bereits mit acht Monaten das Gehen erlernt. Damals bewohnte sie ein ebenerdiges Appartement am Ende des Südflügels des Schlosses. Von dort aus konnte man direkt auf die Gartenterrasse, welche die Orangerie beherbergte, hinaustreten. Marie Antoinette hatte ein Gitter aufstellen und damit ein Stück des Gartens vom übrigen Park abtrennen lassen. An diesem Gitter hatte sich Marie Thérèse hochgezogen und ihre ersten Schritte getan.
Nun schleppten sie und Ernestine, nach Genehmigung der Gouvernanten, das mittlerweile fast neun Monate alte Schwesterchen nach dorthin. Aber Sophie machte zunächst keine Anstalten, ihre Fingerchen in das Gitter zu verkrallen. Staunend saß sie in ihrem weißen Kleidchen zwischen bunten Frühlingsblumen im Gras und ließ sich von der Sonne bescheinen. Allerdings nicht lange, denn schon nahte Frau von Mackau mit einem Schirm.
„Komm Sophie, komm zu mir“, forderte Marie Thérèse das Kleinkind auf und kroch rückwärts auf den Knien von ihm weg. Die Gouvernante stellte den Sonnenschirm auf, und Sophie blinzelte nicht mehr. Aus großen blauen Augen blickte sie die Schwester an, blieb aber sitzen. Überhaupt war sie ein auffallend ruhiges Kind, das wenig Bewegungsfreude entwickelte – bisher zumindest. Marie Thérèse dachte daran, wie sie um diese Zeit im vergangenen Jahr mit ihrer Mutter und dem jüngsten Bruder hier gewesen war. Wo war die Mutter heute? Sie wusste es nicht, sah sie selten in letzter Zeit – und fast nie zusammen mit Sophie.
Immer mehr Fragen, auf die sie keine Antworten fand, sammelten sich in Marie Thérèses Kopf. Der Stoff des täglichen Schulunterrichts hatte dagegen immer weniger Platz. Zunächst konnte sie das vor ihren Lehrern verbergen, schützte Kopfschmerzen vor, was oft genug der Wahrheit entsprach. Doch damit riskierte sie auch stets eine ärztliche Visite.
Noch vor den Lehrern bemerkte Ernestine, dass die Prinzessin geistig anderswo weilte, sogar während des gemeinsamen Spiels. Beim Tric-Trac verlor sie dauernd, und beim Versteckspiel suchte sie meistens die gleichen Büsche und Sträucher auf. Doch wenn Ernestine sie darauf ansprach, schüttelte sie nach kurzer Überlegung immer den Kopf. Ach, es hätte so wohl getan, sich der Freundin anzuvertrauen. Aber was, wenn diese ihre geheimen Befürchtungen teilte, wenn auch sie bemerkt hatte, dass der Königin an ihrem jüngsten Kind offenbar nichts lag? Wann, so fragte sich Marie Thérèse in bangen Nächten, würde die Mutter auch an ihr jegliches Interesse verlieren?
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