Nein, nein, sie wurden gebracht, bestimmt wurden die Kinder gebracht, ganz sicher. Aber von wem?
Marie Thérèses Blick versuchte den Garten zu durchdringen – Bäume, Sträucher, ja, Wolken, die vom Wind getrieben wurden und sich zu bizarren grauen Figuren am schwarzblauen Himmel verzerrten. Dann fiel ihr ein, dass man offenbar im Bett liegen musste, um ein Kind zu bekommen. Immer, so erinnerte sie sich, wurde vom „Wochenbett“ gesprochen. Sie wandte sich um. Ob ihres den Ansprüchen eines solchen „Wochenbettes“ wohl genügte? Ein richtiges, lebendiges Kind, das wäre doch tausendmal schöner und interessanter als die prächtigste Puppe. Vielleicht, so überlegte Marie Thérèse, war dieses Wesen, das die kleinen Kinder brachte, noch in der Nähe und hatte noch eines für sie dabei. Mit diesem Gedanken legte sie sich zurück in ihr Bett und stellte sich schlafend.
Indem keine Reize ihre Augen mehr ablenkten, wurden ihre Ohren hellhöriger und glaubten endlich, Stimmen und Geräusche wahrzunehmen, Rascheln von Reifröcken, leises Klirren aneinander schlagender Armreifen. Ein Lufthauch, wie wehende Fächer ihn für gewöhnlich verursachen, strich über ihre Stirn. Oder war es der Flügel eines Engels? Ihn bloß nicht verscheuchen!
Marie Thérèse rührte sich nicht. Nur ihre zitternden Lider hätten einem Betrachter verraten, wie unruhig die Pupillen dahinter waren. Allmählich formten sich Worte aus dem Gewisper und Geflüster um sie herum. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Kindes, als es zu verstehen glaubte: Du hast ein Brüderchen bekommen – ein kleines, feines Brüderchen.
Marie Thérèse schlug die Augen auf. Helles Tageslicht drang durchs Fenster, abgemildert durch die mit bunten Blüten gemusterten Vorhänge. Die Gesichter der Hofdamen ihrer Mutter beugten sich über das Mädchen, lächelten verheißungsvoll. Dazwischen erschien das Frau von Mackaus. „Aufstehen Madame Royale“, grüßte sie freundlich. „Sie haben ein Schwesterchen bekommen.“
Ungläubig erwiderte Marie Thérèse ihren Blick. „Ein Schwesterchen“, kam es schlaftrunken über ihre Lippen.
Sie hat es noch nicht begriffen, missdeutete die Gouvernante des Mädchens Erstaunen und strich ihr über die Stirn. „Ja, eine kleine Sophie – Marie Sophie Helene Beatrice.“
Stumm formten Marie Thérèses Lippen die Namen nach. Ein Schwesterchen – sie konnte es noch immer nicht glauben.
Während überall im Land sogar verunreinigtes Roggenbrot immer knapper und somit unerschwinglicher wurde und hungernde Arbeiter und Tagelöhner manch Großbauern und Kaufleute verdächtigten, Getreide zu horten, um es auf diese Weise künstlich zu verteuern, speiste man bei Hofe allerfeinstes Weißbrot. Darüber hinaus vertilgte allein Louis XVI. bereits morgens um sechs ungeheuere Mengen an Gebratenem und Gesottenem.
Abgeschirmt vom Volkszorn, der darüber brodelte und kochte, genossen Marie Thérèse und ihre Geschwister, dass sich die Mutter im Sommer des Jahres 1786 vorrangig ihnen widmete. Der tiefere Grund dafür wurzelte freilich darin, dass man an ihrer Unschuld bezüglich der so genannten „Halsbandaffäre“ zweifelte.
Marie Antoinette trotzte der höfischen Etikette, ließ ihren Kindern luftige Baumwollkleider mit weiten Ärmeln anziehen und flüchtete, wann immer sie konnte, mit ihnen vor der Öffentlichkeit in die Idylle ihres Dorfes Hameau. Erst vor wenigen Jahren war es im Park des kleinen Trianons erbaut worden – ein Spielplatz mit Mühle, Hühnerstall, Taubenschlag, Molkerei-Käserei und Ställen, alles malerisch gelegen an den Ufern eines Sees. Hier konnte die verwöhnte Königin, gemäß der Naturlehre Rousseaus, nach Herzenslust Bäuerin spielen, ohne mit der realen Not ihrer Vorbilder konfrontiert zu werden.
Und waren sie oder die Kinder des Melkens und dergleichen leid, so lockte das große Trianon. Dieses einstöckige Gebäude lag an den Grenzen von Versailles. Es war zwar weniger prunkvoll, als das nahe gelegene Schloss, bot aber dennoch einen einladenden Anblick mit seinen beiden Seitenflügeln, deren Fassaden aus einem gleichmäßigen Wechsel von Pfeilern und großen Bogenfenstern bestanden und mit weißem und rosa Marmor verkleidet waren. Verbunden wurden sie durch einen Säulenhof, den der König selbst entworfen hatte. Er führte in einen Garten, dessen Bepflanzung den strengen geometrischen Formen der übrigen Versailler Gärten unterworfen war, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab.
An dieser Pracht durften selbst Bürgerliche teilhaben – zumindest gelegentlich und falls sie gut gekleidet waren, was gering Betuchte von vornherein ausschloss.
Vor allem Marie Thérèse war es zu verdanken, dass im Herbst nach der Geburt des Geschwisterchens wieder einmal ein Kinderball im großen Trianon stattfand. Lange zuvor saß das Mädchen in seinem Ankleidezimmer vor der Spiegelkommode und ließ sich von zwei Zofen herrichten, unter strenger Aufsicht Frau von Mackaus. Mehrere Flaschen Lavendelwasser, Tiegel mit Pomade und Reispuder wurden angebrochen, seidene Bänder ins Haar geflochten, dann durch andere ersetzt, die der kleinen Prinzessin besser gefielen, so dass ihr Stuhl schließlich umgeben war von einem bunten Meer aus Seidenstoffen.
Als Stunden später alle Beteiligten sie zufrieden umstanden, glich Marie Thérèse in ihrem weit ausladenden, golddurchwirkten und mit Perlen sowie Juwelen bestückten Damastreifrock verblüffend einer Miniaturausgabe ihrer Mutter. „Mousseline-la-sérieuse“ hätte ihr Onkel, der Graf von Artois, sie wieder einmal nennen können, wäre er da gewesen.
Endlich nahm die königliche Gesellschaft in mehreren Kutschen Platz und fuhr, entlang der weitläufigen Gärten, deren Farben in der untergehenden Sonne ein letztes Mal aufleuchteten, beim großen Trianon vor.
Standesbewusst empfing die Dauphine ihre kleinen Gäste, das Haupt mit der hochgesteckten und durch den Reispuder künstlich gealterten Rokokofrisur stolz erhoben, so stolz, dass keiner der wenigen Bürgerlichen es wagte, sie anschließend zum Tanz aufzufordern. Den kleinen Herzögen und Grafen, entsprechend hergerichtet, winkte die Gnade ihrer hohen Geburt. „Traut euch!“, schien sie ihnen zuzurufen, „bewerbt euch beizeiten um den Platz an der Seite von Frankreichs Dauphine“, während ihre erwachsenen Begleiter insgeheim auf eine solch hervorragende Partie spekulierten. Doch auch von diesen Blaublütigen fanden zunächst nur zwei den Mut, unter den Blicken der anderen die Gunst Marie Thérèses zu erbitten. Der etwas jüngere dieser beiden, etwa neun Jahre alt, trat rasch auf die Prinzessin zu, als er hinter sich seinen Nebenbuhler bemerkte, und forderte sie mit artiger Verbeugung zum Tanz.
Nicht gerade begeistert folgte ihm Marie Thérèse von ihrem rotsamtenen Bänkchen aufs Parkett. Der andere wäre ihr lieber gewesen, aber das verbarg sie hinter ihrem hochmütigen Blick. Ein Lächeln? Nein, der hier sollte froh sein, dass sie ihn überhaupt erhörte.
Mit zierlichen Schritten tanzten die Kinder ein Menuett, bald gefolgt von anderen Paaren. Immer noch saßen viele auf den mit Samt überzogenen Bänken an den mit vergoldetem Stuckwerk und Spiegeln verzierten Wänden – abwartend, gelangweilt, manche auffallend schüchtern. In Grüppchen standen einige Mädchen herum, warfen verstohlene Blicke auf die Tanzenden, besonders auf Marie Thérèse, kicherten in sich hinein und tuschelten miteinander. Zuvor hatten sie sich vergewissert, dass kein Erwachsener in unmittelbarer Nähe weilte und sie beobachtete. Nicht einmal den Anschein durfte es haben, dass jemand sich der Prinzessin gegenüber ungebührlich verhielt. Und sie selbst, wie empfand Marie Thérèse ihre Sonderstellung? Mit einigen der Mädchen war sie von vorigen Bällen her bekannt, und während sie sich von ihrem kleinen, sichtlich stolzen Kavalier zu den Klängen der Musik übers Parkett führen ließ, schweiften ihre Blicke immer wieder ab.
Читать дальше