„Mach das.“ Ihre Tochter zeigte auf die Briefe, die sich auf dem Tisch stapelten. „Schreibst du wieder deinen Geschwistern?“
„Es ist lange her seit dem letzten Mal.“
Henriette zog den Gürtel ihres braunen Morgenmantels enger. „Und? Hat sich einer von ihnen jemals bei dir gemeldet?“
„Deine Tante Alexandrine.“
„Sie ist seit Jahren die Einzige. Ich an deiner Stelle würde niemandem mehr schreiben.“
„Es sind meine Geschwister und im Gegensatz zu mir haben sie viel zu tun.“
„Sicher, Maman. Du bist einfach viel zu gut für diese Welt.“
„Ja, ja“, sie tätschelte ihre Tochter am Arm. „Sieh zu, dass du ins Bett kommst. Es ist schon neun Uhr.“ Kaum ausgesprochen, war Henriette bereits aus der Tür des Blauen Salons.
Babette wandte sich wieder dem leeren Bogen Papier zu, der vor ihr lag, und nahm die Schreibfeder zur Hand. Doch im nächsten Augenblick legte sie sie ab, verließ ihren Platz und stellte sich vor das Fenster.
Dichter Schneefall herrschte vor. Einige der beleuchteten Schlossfenster waren beschlagen. Dahinter bewegten sich Schatten. Es war kaum zu glauben, wie viele Menschen hier Tür an Tür mit ihnen wohnten und trotzdem kannte sie kaum die Hälfte. Aber eigentlich war ihr das egal. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die förmlich Kontakt zu anderen suchte, das Leben in vollen Zügen genoss und jeden Ball besuchte, der sich ihr bot.
Babettes Blick glitt zum Marmorhof hinunter, der wie leergefegt war. Nur eine Kutsche stand einsam und verlassen da. Dort in der Ecke, versteckt hinter der großen Herkulesstatue, hatte sie vor vielen Jahren Marschall Philippe Charles de la Fare geküsst. Er galt als einer der schönsten Männer bei Hofe, und das war er auch gewesen. Seinen Tod hatte sie bis heute nicht verwunden. Den ihres Mannes hingegen schon längst vergessen, denn das Leben an der Seite des Prinzen de Conti war schwierig gewesen, obwohl sie versuchte, sich mit ihm und den Gegebenheiten zu arrangieren. Zu allem Übel war sie jedoch vor und sogar während ihrer Ehe verspottet worden und musste zugeben, dass auch sie selbst zutiefst erschrocken war, als sie ihren Mann zum ersten Mal gesehen hatte. Bereits in jungen Jahren hatte er einen Buckel gehabt. Noch dazu war sein Gesicht stark behaart gewesen, was beinahe animalisch wirkte. Man konnte es nicht anders sagen: Er sah aus wie ein Werwolf. Aber nach ihrer Erkrankung durfte sie als Letzte über Äußerlichkeiten richten.
Mit zwanzig Jahren hatte sie ihren siebzehnjährigen Cousin 1. Grades geheiratet. Einen Mann mit mehreren Gesichtern, der ständig zwischen Himmel und Erde jonglierte. Mal war er blendend gelaunt, mal zu Tode betrübt oder er hatte einen Wutausbruch. Hinzu kam die Kinderlosigkeit. Mehr und mehr setzte ihm dieser Umstand zu, weil er sich nicht wie ein ganzer Mann fühlte. Also beschlossen sie, so zu tun, als wäre sie schwanger. In diesen neun Monaten hatte sie ihn zum ersten Mal glücklich erlebt, weil ihn viele plötzlich wahrnahmen. Zumindest in seiner Welt. In ihrer Realität wurde hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt, welches Monster sie im Bauch tragen würde.
Anfang Dezember fuhren sie dann offiziell für einige Wochen zum Château ihres Mannes, suchten jedoch bei Nacht und Nebel die stadtbekannte Hurenmutter Gourdan auf. Eine berechnende und kalte Frau. Am liebsten wäre sie sofort wieder gefahren. Doch als ihnen die Gourdan den drei Tage alten Säugling gezeigt hatte, war für einen Moment die Welt stehen geblieben und am Morgen danach war alles anders gewesen. Luc wurde zu ihrem Sohn. Die nächsten zwei Jahre ging alles gut und es hatte den Anschein gehabt, als wäre ihr Mann mit der Situation zufrieden. Bis zu ihrer Schwangerschaft, die sie förmlich überrollt hatte. Ab da änderte sich ihr Mann. Luc und auch ihr gegenüber. Er wurde abweisend und musterte sie manchmal, als wäre sie eine der Huren, die auf dem Landsitz der Gourdan ihre Kinder zur Welt brachten, die dann gewinnbringend verkauft wurden.
Als ihr Mann schließlich an Pocken erkrankte, hatte sie ihn trotz allem rund um die Uhr gepflegt und sich wirklich Sorgen gemacht. Danach war sie krank geworden, doch er hatte nicht einmal den Leibarzt rufen lassen. Das musste sie selbst veranlassen. Im Grunde war das der Anfang vom Ende gewesen, denn nach ihrer Genesung fing er an, sie zu schlagen. Immer wieder war sie zu ihrer Mutter geflüchtet. Einmal blieb sie sogar wochenlang mit den Kindern in einem Kloster in Paris. Aber letztendlich war sie seine Ehefrau und musste zu ihm zurückkehren.
Dann trat der schöne Marschall in ihr Leben. Zu diesem Zeitpunkt war sie innerlich so gebrochen gewesen, dass sie keinen Selbstwert mehr hatte und sich alles andere als attraktiv fühlte. Deshalb wollte sie nicht am Sommerball auf Schloss Ussé teilnehmen, doch ihre Mutter kannte kein Pardon. Im Nachhinein sollte es wohl so sein, denn mitten unter den Gästen sah sie ihn . Ein Blick in seine braunen Augen hatte genügt, um sich unsterblich zu verlieben. Und das, obwohl sie bereits mit Henriette schwanger gewesen war. Umso weniger hatte sie damit gerechnet, dass ihre Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhen würde und doch war es genauso gewesen. Er, der schöne Marschall und sie, die von einer Krankheit gezeichnete Prinzessin, begannen eine Affäre, die sie auch nach Henriettes Geburt weiterführten. Seine Nähe, Liebe und Fürsorge hatten ihr unsagbar gutgetan. Endlich war sie jemandem wichtig. Jemandem, der als oberflächlich diffamiert wurde, aber das genaue Gegenteil war. Er liebte sie um ihrer Selbstwillen und hatte ihr Worte zugeflüstert, die sie bis heute tief in ihrem Herzen bewahrte. Von seiner Zärtlichkeit ganz zu schweigen. Doch leider sollte ihr Glück nicht von langer Dauer sein.
Babette bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Arme.
Eines Abends kam sie nichtsahnend nach Hause. Ihr Mann schlug sie sofort mit der Faust ins Gesicht, kaum dass sie die Tür ihres Stadtpalais hinter sich zugezogen hatte. Diesem Übergriff folgte eine Brutalität, die Todesangst in ihr ausgelöst hatte. Nur mit letzter Kraft hatte sie es zu einem Arzt geschafft, nachdem er endlich von ihr abließ. Wohlweislich hatte ihr Mann dem Hausmädchen Benedikta sowie dem restlichen Dienstpersonal freigegeben.
Sie war blutüberströmt gewesen und brauchte Wochen, um sich zu erholen. Hinzu kam, dass sie um das Leben ihres Geliebten bangte. Schweren Herzens sagte sie sich deswegen von ihm los und weihte ihre Mutter in alles ein, auch was Luc betraf. Denn sie wusste nicht, ob sie überleben würde und wollte für den Fall der Fälle reinen Tisch machen. Ihre Mutter, die während ihrer Bettlägerigkeit die Kinder zu sich nach Versailles geholt hatte, brachte daraufhin Luc zurück …
Hätte ich ihr bloß nie unser Geheimnis anvertraut , dachte Babette und seufzte. Lotti war außer sich gewesen und ließ Luc seitdem bei jeder Gelegenheit spüren, dass er nicht zur Familie gehörte –zumindest in ihren Augen. Dabei konnte der arme Junge am allerwenigsten für die Umstände.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Erschrocken drehte sich Babette um.
Ihre Mutter rauschte in den Salon herein, als hätte sie gespürt, dass sie gerade an sie gedacht hatte. Sie trug ein grünes Atlaskleid und ein Pelzcape. Das Haar hatte sie über eine Fontange aufgetürmt. Das Familiendiadem mit den lupenreinen Diamanten glitzerte an ihrem faltigen Hals.
„Was schaust du so verschreckt? Ich bin es nur“, meinte sie leichthin. „Nicht der Leibhaftige.“ Sie rümpfte die Nase. „Oder unsere allseits verhasste Françoise. Na ja, kommt beides auf das Gleiche heraus. Sogar ihr Mann nannte sie liebevoll Madame Luzifer.“ Mit Schwung warf sie das Cape neben die Briefe – die sich heillos über den Tisch verteilten – und ließ sich auf den Stuhl plumpsen, auf dem Babette zuvor gesessen hatte. Die Mutter wirkte erschöpft, gleichzeitig aufgekratzt.
Читать дальше