„Du hast nicht viel versäumt.“ Wie hart er klang! Zutiefst verletzt.
„Aber alles kann doch nicht schlecht gewesen sein.“
„Für mich schon“, fuhr Luc fort.
„Und wie war er Mutter gegenüber? Glaubst du, dass sie sich geliebt haben?“ Schon einige Male hatte sie die Mutter danach gefragt, doch sie war ihr immer ausgewichen. Als würde auch sie die Zeit am liebsten totschweigen.
Luc lächelte. „Sieh an, du interessierst dich für die Liebe und das in deinem Alter.“
„Ich bin schon sechzehn“, verteidigte sich Henriette und gähnte. „Aber weißt du, was mich wirklich froh macht?“ Sie wandte ihm den Kopf zu.
„Nein.“
„Dass ich dich habe.“
Luc küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Ich bin auch froh, dass du meine Schwester bist. Was würde ich bloß ohne dich tun, du kleine Nervensäge?“
Sie lächelte. „Tja, irgendwann werden sich unsere Wege trennen.“ Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge, als sie weitersprach: „Spätestens dann, wenn ich heiraten muss.“
„Hat Mutter dahingehend bereits etwas angedeutet?“ Er klang genauso wenig begeistert wie sie sich fühlte.
„Sie erwähnte kürzlich den Herzog von Penthiévre.“ Der Gedanke an diesen Mann behagte ihr ganz und gar nicht. „Aber ich kenne ihn überhaupt nicht.“
Luc drückte sie enger an sich. „Da ist das letzte Wort sicher nicht gesprochen. Ich hoffe jedenfalls, dass dir Mutter einen Mann sucht, der dich glücklich macht. Bisher hat sie immer auf unser Wohl geschaut. Das wird sich bestimmt nicht ändern. Also Kopf hoch, das wird schon.“
„Wieso gibt es dich nicht als Bruder und als Mann?“, scherzte Henriette, doch plötzlich hatte sie Tränen in den Augen und konnte nichts dagegen tun. „Du weißt so gut wie ich, dass Ehen in dieser Familie wie Geschäfte geschlossen werden, die möglichst gewinnbringend sein müssen. Louis und Diana sind das beste Beispiel dafür. Mir wird es nicht anders ergehen.“
„Du solltest Mutter in dieser Sache vertrauen“, beruhigte Luc sie. „Und mir. Ich schwöre dir hiermit, dass ich deinen Zukünftigen auf Herz und Nieren prüfen werde.“
„Gefallen sollte er mir aber auch und er muss nett sein. Zuvorkommend, aufrichtig, vor allem treu. Unternehmungslustig, fröhlich, humorvoll …“
Luc lächelte, was jedoch aufgesetzt wirkte. „Wunderbar! Da habe ich wohl den Mund zu voll genommen. So ein Mann muss erst gebacken werden … oder du musst ihn dir schöntrinken. Vielleicht mit Whiskey?“
Sie lachte leise. „Du erinnerst dich noch daran?“ Mit elf Jahren hatte sie davon gekostet und sich nur langsam von dem Hustenanfall erholt, was Luc damals amüsiert zur Kenntnis genommen hatte.
„Natürlich, diesen Anblick werde ich nie vergessen.“ Endlich sah er etwas gelöster aus. „Du hast förmlich mit dem Tod gerungen.“ Ihr gemeinsames Lachen verklang im Raum, dann kuschelte sich Henriette an ihren Bruder und schlief ein.
Luc saß nahe beim Fenster auf der Chaiselongue und beobachtete die Mutter, wie sie mit Henriette und ihrer Bediensteten Benedikta die Kuchentafel deckte. Die fünfunddreißigjährige Dienstbotin hatte moosgrüne Augen, war ziemlich dürr, wirkte stets eingeschüchtert und hatte ihr brünettes Haar wie üblich unter einer weißen Haube versteckt. Benedikta fiel jedoch nicht nur durch Fleiß auf, sondern hatte eine Schwäche für schöne Kleider, was sich auch jetzt bemerkbar machte. Ständig schielte sie auf die Robe seiner Schwester. Von Henriette wusste er, dass Benedikta regelrecht für den Schneider Laffay schwärmte. Er war der beste in ganz Paris.
„Ist dieser Tag nicht großartig?“, freute sich Lucs Mutter.
Heute war der siebzehnte Dezember – sein Geburtstag. Wie üblich machte sie ein Aufheben darum, obwohl er am liebsten seine Ruhe gehabt hätte, denn an Geburtstagen lag ihm nicht viel. Andererseits hätte es die Mutter verletzt, wenn er nicht wenigstens so getan hätte als ob. Die Jubelfeste ihrer Kinder waren für sie seit jeher immer wichtig gewesen und insgeheim musste er zugeben, dass es gut tat, sich im selben Maße geliebt zu fühlen wie die anderen. Insofern war die Mutter neben Henriette der wichtigste Mensch in seinem Leben.
„Ich freue mich schon auf den Apfelkuchen“, ließ Henriette verlauten und legte die Gabeln neben die Teller. Luc grinste, weil sie aussah, als würde sie sich am liebsten sofort auf den Kuchen stürzen. Henriette hatte eine große Schwäche für Süßes, besonders wenn sie aufgeregt war.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, blickte sie hoch und lächelte. In ihrem blauen Damast–Kleid sah sie hinreißend aus. Ihr langes schwarzes Lockenhaar hatte sie heute gezopft und mit Silberspangen kreisförmig am Hinterkopf befestigt. Sie war der Mutter sehr ähnlich, die früher eine Schönheit gewesen war, bis sie die Pocken bekommen hatte. Seitdem war sie durch Narben entstellt. Im Gesicht wie am Körper. Auf einem Auge war die Mutter sogar blind, weswegen sie auch nicht mehr stickte, obwohl sie das immer gerne getan hatte. Doch das war längst nicht alles, worauf sie verzichtete. Sie, die einst auf keinem Ball fehlte, hatte sich ganz und gar von der höfischen Bühne zurückgezogen. Nur am Maskenball in Versailles nahm sie teil und notgedrungen am jährlichen Sommerball auf Schloss Ussé, den die Großmutter zu geben pflegte.
„Wieso starrst du deine Schwester so an, Luc?“, erkundigte sich Großmutter Lotti spitz, die sich an den Tisch setzte. Luc fühlte sich ertappt.
„Lass ihn doch.“ Seine Mutter schnitt den Kuchen in kleine Stücke.
„Deine Gelassenheit möchte ich haben“, erwiderte die Großmutter mit gerümpfter Nase.
Ein mahnender Blick der Mutter traf sie, doch Lotti zuckte mit den Schultern und schob den Teller zurück, als wäre ihr der Hunger vergangen.
Es machte Luc traurig, dass die Großmutter so kalt zu ihm war. Jahrelang hatte er versucht, das zu ändern und ihr näherzukommen. Erfolglos. Als wäre er das ungeliebte schwarze Schaf der Familie. Für Lotti war er das vermutlich auch.
„Glaubt ihr, dass Ludwig kommt?“, fragte Henriette und setzte sich neben die Großmutter.
„Er ist ein guter Freund von Luc und hat in den letzten Jahren keinen seiner Geburtstage versäumt“, ließ die Mutter verlauten. „Diesmal wird es nicht anders sein.“
„Schön, dass sich die beiden so gut verstehen“, kam es sauertöpfisch von Louis, der mit verschränkten Armen vor den großen Rundbogenfenstern stand und in die Winterlandschaft hinausstarrte. Tauwetter hatte eingesetzt. „Mir hat unser Cousin noch nie gratuliert.“
„Mach dir nichts daraus“, tröstete die Großmutter ihn. „Ludwig wird schon noch merken, was er an dir hat. Immerhin engagierst du dich bereits jetzt politisch. Etwas, das Luc ja nicht im Geringsten interessiert. Er kämpft lieber mit dem Schwert.“
„Der eine glänzt in Diplomatie, der andere auf dem Schlachtfeld.“ Luc setzte sich gerade hin. „Jedem das Seine.“
„Nun ja, du hattest schon immer ein Faible für grobe Dinge.“ Der Blick seiner Großmutter war nicht zu deuten. „Louis hingegen ist feinfühlig und sprachgewandt, pflegt Freundschaften zu vielen Künstlern unseres Landes und ist unter den Prinzen bereits jetzt äußerst angesehen. Es ist erstaunlich, wie viel er von seinem Vater hat.“
„Was auch für Luc gilt, und ein wenig haben meine Söhne auch von mir“, warf die Mutter ein und zog mit gespanntem Lächeln ein kleines Holzkästchen aus der Seitentasche ihres Kleides. Der grimmige Blick der Großmutter folgte ihr, als sie auf Luc zuging, der sich erhob. „Das ist für dich, mein Junge.“
„Was ist das?“
„Öffne es, dann wirst du es sehen.“
Er nahm die Schatulle und hob den Deckel an. Henriette trat an seine Seite und stieg nervös von einem Fuß auf den anderen. „Das ist“, stammelte er dann, „Vaters Siegelring.“ Ehrfürchtig nahm er ihn heraus und drehte ihn nach allen Seiten. Das Gold glänzte und der dunkelblaue Stein mit dem Familienwappen schimmerte regelrecht. Stolz erfüllte ihn, obwohl er ahnte, dass der Vater ihm den Ring vermutlich nur zähneknirschend überreicht hätte. Doch unzählige Ahnen hatten ihn getragen. Dieses Wissen war es, das ihm sehr nahe ging.
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