Andrea hatte lange, blonde Haare. Sie brauchte noch keine Brille und trug am liebsten enge Hosen, meistens Jeans. Mit drei Freundinnen walkte sie zweimal in der Woche, ging Dienstagsabends zum Yoga Kurs und kochte sehr gern. Vor allem wenn Freunde kamen. Denn Andrea war von beiden die Kontaktfreudigere, fand schnell Anschluss, lud gern ein und wurde mit Klaus auch gern eingeladen. Sie war ein Genussmensch, gönnte sich gern schöne Dinge und kaufte gern ein. Was Klaus manchmal zur Verzweiflung trieb. In seinen ärgsten Phantasien sah er schon den Fernseh-Schuldnerberater Peter Zwegat mitsamt seinem Flipchart bei sich einziehen, der ihnen einen ähnlichen Finanzstatus wie bei Boris Becker attestieren und alle Handys wegnehmen würde und dann alle weiteren Ausgaben gnadenlos zusammenstrich.
Klaus war eher rational, sachlich, etwas introvertiert und äußerst sparsam. Andrea meinte, die Grenze zum Geiz wäre bei Klaus allerdings nicht mehr weit. Vor allem, als er Andrea voller Stolz von seinem persönlichen Rekord beim Wiederaufgießen eines gebrauchten Teebeutels berichtet hatte.
Und er war auch denkbar ungeschickt, technisch eine Null und machte um Baumärkte einen großen Bogen. Seine Kochkünste beschränkten sich darauf, Spaghetti Wasser zum Sieden zu bringen. Und Wein wählte Klaus prinzipell danach aus, ob die Flasche einen simplen Schraubverschluss hatte.
Ohne Andrea wäre die Familie wahrscheinlich verhungert oder mindestens hochgradig mangelernährt. Der kleine Emil kommentierte Klaus technisches Unvermögen treffend mit „der Papi hat eben zwei linke Hände und zwei rechte Füße.“ Und Anton bezeichnete seinen Vater als technisch vollkommen talentfrei.
Zu Beginn ihrer Beziehung fand Andrea Klaus Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit ja ganz süß. Er weckte in ihr Hilfs- und Beschützerinstinkte und gab ihr das Gefühl einer Überlegenheit gegenüber Klaus. Mit der Zeit nervte Andrea Klaus technisches Unvermögen schon. Selbst einfachste Malerarbeiten oder Reparaturen vermurkste Klaus. Er konnte sich in keinerlei technische Zusammenhänge eindenken. Für jede Kleinigkeit mussten also Handwerker bestellt werden, was Klaus am meisten schmerzte.
Während Andrea Klaus immer häufiger vorwarf „du willst es einfach nicht können “, entschuldigte sich Klaus regelmäßig mit einem Gendefekt, der für seine mangelnde Geschicklichkeit und für sein fehlendes handwerkliches Interesse verantwortlich sei. Er war ja schon in der Schule im Werkunterricht vollkommen ungeschickt und hatte sich in dieser Hinsicht sehr wenig weiterentwickelt.
All das hätte Andrea im Laufe der Jahre dann doch noch hingenommen. Aber eine Sache wurmte sie ständig. Wie viele Frauen liebte Andrea das Tanzen. Als sich beide kennenlernten schaffte sie es tatsächlich, Klaus zu Diskothekenbesuchen zu überreden.
Das Tanzen war damals kein Problem. Denn entweder tanzten sie frei oder, bei langsamen Stücken, in einem engen Klammerblues.
Jetzt aber wollte Andrea mit einer Gruppe von Freunden einen Tanzkurs besuchen. Und hier ging es um Standarttänze. Festgelegte Bewegungen und Schritte nach Musik. Kein freies Rumgehopse mehr, sondern Tanzschritte zu Zweit im vorgegebenen Takt, die man lernen musste.
Während sich die anderen Männer in der Gruppe willig und meistens auch geschickt anstellten, schaffte es Klaus einfach nicht, sich die Tanzschritte zu merken. Und das, obwohl die anderen Herren etwas beleibter und unsportlicher als Klaus waren.
Eigentlich fing Klaus jede Woche wieder fast bei null an, was nicht nur den Tanzlehrer, sondern auch die Freunde etwas nervte. Und Andrea war das Ganze peinlich. Nur der Wiegeschritt als Zwischenschritt beim langsamen Walzer klappte bei Klaus ganz gut. Beim Disco-Fox zählte Klaus als Einziger laut mit: Eins, Zwei, Step, eins, zwei, Step – und bei Step stand er bereits jedes Mal auf Andreas rechtem großen Zehnagel. Danach brauchte sich Andrea ihren Zehnagel wenigstens nicht mehr blau lackieren. Andreas Freundinnen empfahlen ihr daraufhin diskret, keine vorn offenen Tanzschuhe mehr anzuziehen. Eher etwas stabilere Schuhe, ähnlich Arbeitsschutzschuhen mit einer Stahlkappe.
Letztlich entschlossen sich Thalers, den Kurs vorzeitig abzubrechen, um das gute Verhältnis zu ihren Freunden nicht zu belasten. Es blieb dann nur das Treffen nach dem Kurs, bei dem Andreas Freundinnen ihr bei einem Glas Wein von den neuesten Tänzen berichteten, was Andrea insgeheim schon etwas schmerzte.
Und ihren Traum von einem Salsakurs mit Klaus begrub sie lieber stillschweigend. Klaus hätte sich dabei wahrscheinlich nur selbst verletzen können, oder er wäre die Lachnummer des Kurses geworden. Oder aber Beides.
Dafür erfüllte sich Andrea einen anderen Traum.
2
Schon als Kind bekam Andrea Reitunterricht und hatte vor zehn Jahren wieder mit dem Reiten begonnen. Dann bot sich die Gelegenheit für eine Reitbeteiligung an einer geduldigen, klugen und unproblematischen Fuchsstute. Als die Eigentümer die Stute Contess verkaufen wollten, musste Andrea nicht lange überlegen und kaufte das Tier.
Die beiden Jungs konnte sie für das Reiten nicht begeistern. Allerdings Emma, die jetzt sechsjährige Tochter.
Emma war sozusagen nochmal ein ungeplanter Glücksschuss, wie es Klaus gerne ausdrückte. Oder auch ihr kleines Überraschungsei, denn die Schwangerschaft mit Emma war zufällig entstanden. Andrea hatte vorsichtshalber drei Schwangerschaftstests machen lassen, bevor sie Klaus anrief und ihm aufgeregt mitteilte, dass sie mal wieder gesegneten Leibes sei.
Als Andrea den damals vier und sechs Jahre alten Brüdern die freudige Nachricht von dem zu erwartenden Geschwisterchen mitgeteilt hatte, kam bei Anton erstmal ein Grübeln auf. Während Emil seine Mutter spontan umarmte und liebevoll drückte, fragte Anton mit einem süffisanten Lächeln: „Mama, könntest du denn stattdessen auch einen kleinen Hund kriegen?“
Aber soweit war die Medizin damals noch nicht, und Andrea erklärte den beiden Jungs lachend, dass man ja mit einem Geschwisterchen viel mehr als mit einem kleinen Hund anfangen könnte. Emma, als einziges Mädchen, war das Nesthäkchen und beide Brüder buhlten regelmäßig um ihre Gunst.
Jetzt, mit ihren sechs Jahren, hatte Emma ganz prächtige Zahnlücken. Sobald ein Zahn locker wurde, wackelte und drehte sie vor dem Spiegel so lange, bis sie den Milchzahn stolz in der Hand hielt. Und dabei bekam sie jedes Mal so eine angenehme Gänsehaut, wenn sie mit ihrer Zunge stundenlang in dem neuen, etwas blutenden Loch rumpulte.
Der Zahn kam dann mit anderen in eine Dose, wo er sich im Laufe der Zeit auflösen würde. Bis auf einen besonders schönen Schneidezahn, den Andrea konservierte. Genauso wie sie es bei Anton und Emil gemacht hatte.
Die drei konservierten Schneidezähnchen ihrer Kinder ließ Klaus in Gold fassen und einen Anhänger für eine Halskette herstellen. Andrea liebte diese ganz individuelle Kette besonders, weil sie ein Stück ihrer Kinder enthielt und auch so gut zu ihrem Beruf passte.
Die fehlenden oberen und unteren Schneidezähne veranlassten Emma, das Spucken zu intensivieren. Sie machte mit Vorliebe eine „dicke Elle“. So nannte Emma ihr Weitspucken, wenn sie mit viel Kraft und Puste ihre Spucke durch die große Zahnlücke schoss.
Klaus musste auf Drängen von Emma immer wieder die Entfernung ihrer Spuckleistung messen. Was ihm unangenehm war, denn Emma veranstaltete ihr Weitspucken am Liebsten auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Immerhin – Emma schaffte stolze drei Meter achtundsiebzig, was Klaus mit einem Maßband genau festhalten musste.
Emmas Weitspucken nahm ein abruptes Ende, als eine ihrer üppigen Ellen der Nachbarin, Fräulein Saurbier, direkt vor die Füße flog.
Im Gegensatz zu allen anderen ledigen Frauen legte Fräulein Saurbier sehr viel Wert darauf, mit Fräulein und nicht mit Frau angesprochen zu werden. Denn sie war nie verheiratet und ging sechsundvierzig Jahre gänzlich in ihrem Beruf auf.
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