Michael Siemers - VINCENT

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Der deutsche Unternehmer Roland Vogler, der in Deutschland auf der Fahndungsliste der Steuerbehörde steht, wird in seinem Hotelzimmer in Roche tot aufgefunden. In Verdacht gerät seine Frau Christine, die ihn im Streit niederschlug und flüchtete. Vogler aber wurde erschossen und eine große Summe Bargeld wurde mitgenommen. Vincent Dupont, der mit Vogler kurz zuvor ein Geschäft abgeschlossen hatte, bei dem jene große Summe über den Tisch ging, verhalf unwissentlich dessen Frau Christine zur Flucht. Kommissar Brunnel und sein ehrgeiziger Assistent Campanac nehmen die Ermittlungen auf. Eine alte private Feindschaft zwischen Campanac und Dupont wird wieder aufgenommen. Beide, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, fangen an, sich zu bekämpfen. Aus der Konstellation der verschiedenen Umstände ergibt sich ein völlig anderer Ausgang.

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Ab und wann traf er sich mit Freunden zur allgemeinen Angeltour oder einfach nur, um mit ihnen die weiberfreie Zeit für sich und den Alkohol zu nutzen. Für die zu Haus gebliebenen Ehefrauen wurde es als "Atlantikinspektion" dargestellt. Es kam auch vor, dass er für einen befreundeten Skipper, der Ausflugstouren für Touristen anbot, Fahrten unternahm.

Clara Bellier stand von ihrem Stuhl auf und stellte die Aktenordner in den Schrank zurück. Sie war mit ihren 41 Jahren eine sehr hübsche und attraktive Frau mit langen dunklen gewellten Haaren, deren Alter auf höchsten 30 geschätzt wurde. Ihre dunklen Augen gaben ihr ein südländisches Aussehen. Sie war konservativ gekleidet und war allein durch ihre Größe von Einsachtzig ein regelrechter Hingucker. Ihr ganzes Erscheinungsbild ließ so manche Männerherzen höher schlagen und sie war, sehr zum Leidwesen der Männer, lesbisch. Ein Geheimnis, was, außer Vincent; niemand wusste. Trotz der modernen Toleranz der heutigen Zeit fanden immer wieder Diffamierungen statt. Stammtischparolen. Zu einer bildhübschen Frau gehört nun mal ein richtiger Mann. Eine Einstellung, die aber auch Frauen gegenüber Schwule hatte. Das aber wusste nur Vincent und er hütete sich, irgendjemandem etwas davon zu erzählen. Er war einer der Wenigen, die ein paar Zentimeter größer waren als sie. Theoretisch hätten sie ein ideales Paar abgegeben.

Clara Bellier forderte von allen Mitarbeitern Höflichkeit und Respekt. Kraftausdrücke oder Flüche kamen ihr so gut wie nie über die Lippen. Wenn es dann doch einmal passierte, entschuldigte sie sich im gleichen Atemzug dafür. Von klein auf an genoss sie die erzkonservative Erziehung ihrer Eltern. Gepflegte Umgangsformen und sittsames Verhalten wurden ihr aufgrund ihrer Internatserziehung eingetrichtert. Als ihre Eltern die Neigung ihrer Tochter erfuhren, brach ihre heile Welt zusammen und sie konnten ihr dies bis heute nicht verzeihen. Ihre Familie hatte dafür kein Verständnis und die Treffen beliefen sich nur noch auf wichtige Ereignisse wie Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen und Beerdigungen.

Clara Bellier hatte in der Firma alles im Griff. Buchhaltung, Disposition, Termine, Kundengespräche und Arbeitskoordination der Monteure gingen über ihren Tisch. Niemand, selbst Vincent wagte es nicht, ihren durchstrukturierten Arbeitsablauf über den Haufen zu schmeißen oder gar in ihrem Terminkalender Änderungen vorzunehmen. Ferner kümmerte sie sich um die Geburtstage, Hochzeitstage oder auch andere Anlässe der Kunden und vergaß nie eine Glückwunschkarte, Blumen oder Wein zu schicken. Die Pflege und somit der gute Kontakt zu den Kunden bescherte der Firma S.E.S. neue Kunden. Clara Bellier war souverän und redegewandt. Ihre höfliche, aber dominante Art überzeugte. Sie war die Einzige in der Firma, die alle siezte und es auch von allen Anderen für sich erwartete. So bewahrte sie immer eine gewisse Distanz, wirkte somit auch unnahbar. Ihr kerzengerader Gang und ihre aufrechte Sitzhaltung führten sogar zu einigen Witzeleien der männlichen Kollegen. Einmal erlaubte sich Vincent ihr gegenüber einem verbalen Ausrutscher, in dem er sie bei einem Streitgespräch als Mademoiselle "Stock im Arsch" betitelte. Daraufhin schloss sie sich mit einem Weinkrampf für über eine Stunde in der Toilette ein. Es kostete Vincent damals einen großen Blumenstrauß und eine Einladung zum Essen, um sie wieder einigermaßen zu beruhigen. Sie hatte lange damit zu tun, ihm und den anderen Monteuren, die frauenverachtende Ausdrucksweise und Fäkalausdrücke abzugewöhnen. Vincents Angewohnheit war es, seine Mitarbeiter häufig mit einem lockeren "Guten Morgen, alles fit im Schritt" zu begrüßen. Das gewöhnte sie ihm schnell wieder ab. Sie war der Meinung, dass das Befragen des allgemeinen Wohlbefindens sich nicht auf bestimmte Körperregionen beziehen musste. Ihrer Höflichkeit und Ausdauer war es zu verdanken, dass sich alle dezent zurückhielten, wenn sie den Raum betrat. Einige nahmen sogar respektvoll ihre Mütze ab, wenn sie vor ihr am Schreibtisch standen. Frauenfeindliche Witze verstummten sofort, sobald sie auch nur in der Nähe vermutet wurde. Selbst Vincent warf einen kontrollierenden Blick zur Tür, bevor er einen derben schmutzigen Witz erzählte. Somit respektierte er ihre Autorität.

Vor genau zehn Jahren holte Vincent sie zu sich. Er kannte sie schon, als sie noch für einen seiner ersten Kunden, eine mittelgroße Möbelfirma in La Rochelle, arbeitete. Ihre Art und Fähigkeiten faszinierten ihn. Höflich, distanziert und unnahbar wickelte sie damals mit Vincent die Verkaufsgespräche ab. Sie war immer recht pikiert über seine unkomplizierte Art, Gespräche zu führen. Während sie höflich und umständlich Reklamationen zu beschreiben versuchte, brachte es Vincent mit einem Wort auf den Punkt: "Scheißarbeit!"

Hüstelnd bestätigte sie dann seine Definition und tat es damit ab, dass sie eben einen Handwerker vor sich sitzen hatte und keinen Geschäftsmann. Sein daraufhin sympathisches Wesen verunsicherte sie, worauf er ihr letztlich doch ein Lächeln entlockte. Die Folge war, dass sie dann nervös an ihren Haaren, ihrer Brille oder Jacke nestelte. Was Vincent wiederum ein weiteres Schmunzeln entlockte. Beide konnten von ihrer Art her nicht unterschiedlicher sein. Trotz allem waren sich beide wohl wollend, auch wenn sie ihn hinter seinem Rücken als "Holzfäller" und er sie als "Internatserzieherin" betitelte.

Als Lohnbuchhalterin hatte Clara Bellier auch die Prokura in dieser Möbelfirma und somit relativ viele finanzielle Handlungsvollmachten. Das und die Liebe zu einer Frau veranlasste sie dazu, Geld zu unterschlagen. Es ging um eine Summe von 72000 Franc, die sie im Laufe von zwei Jahren veruntreute. Vincent wurde zufällig Zeuge, als sie mit lauten und üblen Beschimpfungen von ihrem eher etwas primitiven Chef gefeuert wurde.

"Sie gehören mal so richtig durchgenommen, damit Sie wieder auf der richtigen Schiene fahren, Sie verdammte Lesbe!", schrie er ihr hinterher und drohte lauthals sie zu verklagen. Damit outete er sie vor der ganzen Belegschaft und beantwortete nebenbei Vincent seine Frage, weshalb sie auf private Einladungen seinerseits stets zurückhaltend und reserviert reagierte. Mit eingesogenen Lippen und hochrotem Kopf wollte sie an Vincent vorbei laufen, als dieser sie recht unsanft am Arm festhielt. Daraufhin drückte er ihr seinen Wagenschlüssel in die Hand und wies sie an, sich in sein Auto zu setzen und auf ihn zu warten. Wie mechanisch folgte sie der Anweisung, ohne zu fragen, wieso. Dort machte er ihr dann einige Minuten später das Angebot, für ihn zu arbeiten, die 72000 Franc vorzustrecken und ihr eine bequeme zinslose Rückzahlung zu ermöglichen. Das ersparte ihr natürlich eine Anzeige und sie wusste, dass sie in ganz La Rochelle keine Arbeit mehr gefunden hätte. Unmissverständlich machte er ihr aber auch mit seinem Vokabular klar, das wenn sie ihn "bescheiße", er ihr den "Arsch aufreiße" und sie "auf Links drehe". Schockiert über diese klare Drohung und der Ausdrucksweise brachte sie außer einem bejahenden Kopfnicken, keinen Ton mehr heraus. Mit Ausnahme des Ausrasters ihres Chefs hatte es noch nie jemand gewagt, so mit ihr zu reden. Eine Umgangssprache, an die sie sich im Laufe der Jahre gewöhnen musste. Es war ihr aber bewusst, dass dieser Mann ihr eine einmalige Chance bot, die sie nicht ablehnen konnte. Trotz des rüden Umgangstons nahm sie dankbar an und bereute es keine Sekunde. Im Gegenteil, sie fühlte sich Vincent gegenüber verpflichtet und war bemüht, sich nicht den kleinsten Fehler zu leisten oder auch nur den Hauch von Misstrauen aufkommen zu lassen. Defizite in der Abrechnung, unkorrekte Zahlungen ihrerseits oder fehlende Zahlungsnachweise trieben sie in die Verzweiflung. Auch wenn es sich nur um ein paar Cent aus der Portokasse handelte, so blieb sie so lange in der Firma, bis sie den Fehler gefunden hatte. Anfangs hatte sie viele Wochenenden damit verbracht, Vincents chaotische Buchführung zu ordnen. Sie befasste sich eingehend mit der neuen Materie und holte sich via Internet Preise aus ganz Europa ein. Ferner arbeitete sie Arbeits- und Notpläne für den Service aus. Sie setzte durch, dass sich alle Mitarbeiter mit Vincent am Monatsende zusammensetzten, um Probleme oder Erfahrungen auszutauschen. Trotz anfänglichen Gezeters einiger Monteure sah man die Notwenigkeit ein. Bei all ihren Vorgaben und Ideen hatte sie immer Vincents Rückendeckung. Wenn sie dann wirklich einmal über ihr Ziel hinausschoss, bremste Vincent sie undiplomatisch unter vier Augen aus. Nicht selten ließ seine Ausdrucksweise ihr die Schamesröte ins Gesicht steigen. Ihren Wunsch, die Nacktfotos aus dem Aufenthaltsraum der Monteure zu entfernen wies Vincent kategorisch zurück und berief sich auf die "artgerechte Haltung" von männlichen Mitarbeitern. Er machte ihr den Gegenvorschlag sich ein paar Bilder nackter Männer ins Büro zu hängen. Das lehnte Clara Bellier erwartungsgemäß empört mit hochrotem Kopf ab und ärgerte sich über diese Taktlosigkeit. Vincent erinnerte sich gern an einen Vorfall, der mittlerweile viele Jahre zurücklag. Sie saß gerade an ihrem Schreibtisch, als sie von unten das schallende Gelächter der Monteure vernahm. Unmittelbar danach betrat Vincent gut gelaunt das Büro. Als sie ihn nach der ausgelassenen Heiterkeit der Kollegen fragte, erzählte er ihr, dass er sich zwei Flüchtlingsmädchen angenommen hatte, die ihre Eltern in Bosnien verloren hatten. Clara Bellier fand es zwar sehr rührend, verstand aber nicht, was es darüber zu lachen gab. Daraufhin zeigte er ihr ein Foto und sie vermutete zwei kleine, zerlumpte und traurige Kinder zu sehen. Doch auf dem Foto waren zwei blutjunge, barbusige Mädchen, die sich lasziv auf einem Bett rekelten. Empört warf sie ihm das Foto auf den Schreibtisch und nannte es schamlos und diskriminierend. Am wenigsten Verständnis hatte sie, dass man darüber auch noch lachen konnte. Was dann folgte, nannte Vincent eine „Taubstummenzusammenarbeit". Es dauerte ein paar Stunden, bis Clara Bellier sich wieder eingekriegt hatte und er sie mit einem Witz zum Lachen brachte. Das wiederum war es, was sie an ihm schätzte, die versöhnliche Art die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Man ihm letztlich nicht wirklich böse sein konnte.

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