Als der Hauptkommissar geendet hatte, blieb es eine Weile still. Dann antwortete Solms, sichtlich nachdenklicher geworden: „Was ich aber gar nicht verstehe: Warum ist dieser Maurischat nach Waldesruh zurückgekehrt? Es war doch abzusehen, dass das Ärger gibt.“
„Das habe ich mich natürlich auch sofort gefragt. Es hat, soweit ich das sehe, zwei Gründe. Einmal kann sich wohl sein Vater nicht vorstellen, dieses Haus, in dem er seit seiner Kindheit lebt, aufzugeben. Zum anderen behaupten Vater und Sohn übereinstimmend, dass Wolfgang Maurischat zehn Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Er sei damals vom wahren Täter irgendwie hereingelegt worden. Jetzt glaubt Wolfgang, erst seine Unschuld beweisen zu müssen, bevor er daran denken kann, sein Leben wieder neu aufzubauen.“
Solms atmete hörbar schwer.
„Aber Sie wollen doch jetzt nicht etwa eine Wiederaufnahme dieses alten Falles betreiben?“
„Was heißt ‚wollen‘? Ich habe die Ermittlungsakte von damals durchgesehen, einfach ein Skandal. Maurischat stand offenbar für die Ermittler von Anfang an als Täter fest. Es gab und gibt bis heute keine Leiche und kein Geständnis. Einer Reihe von entlastenden Spuren wurde überhaupt nicht nachgegangen. Die entscheidenden Zeugenaussagen von den Herren Adalbert und Waldemar Schittenhelm wurden nicht auf ihre Richtigkeit überprüft. Das wirft kein gutes Licht auf die Heidelberger Kriminalpolizei!“
Solms seufzte schwer und sagte eine Weile nichts. Seine Empörung war in Besorgnis umgeschlagen. Sehr viel freundlicher, ja geradezu werbend meinte er schließlich: „Travniczek, ich habe Sie da sicher etwas ungerechtfertigt attackiert und bitte Sie, das zu entschuldigen. Doch mir ist überhaupt nicht wohl dabei, wenn Sie in diesen Fall tiefer einsteigen. Sie müssen wissen: Ansgar Schittenhelm, den Sie ja bei Ihrem Verhörmarathon nicht angetroffen haben, hat sich beim Innenminister über Sie beschwert. Er ist überall in der Gesellschaft hoch angesehen als Kunstmäzen und Förderer vieler sozialer Projekte, vor allem in der Jugendarbeit. Er ist nicht nur persönlich mit dem Innenminister befreundet, sondern, soweit ich weiß, auch noch mit vielen anderen hohen Tieren. Wenn sein Sohn und sein Neffe bei dem Prozess gegen Maurischat ausgesagt haben, können Sie davon ausgehen, dass sie das mit Wissen und Billigung von dem Alten getan haben. Und wenn Sie dem ans Bein pinkeln, wird der alle seine Kontakte einzusetzen wissen, um Sie fertigzumachen. Ob ich Sie da noch schützen kann, weiß ich nicht. Sie müssen selbst wissen, was Sie tun wollen.“
Jetzt wurde Travniczek wütend: „Was heißt ‚selbst wissen, was ich tun will‘, Herr Direktor? Wir sind Beamte und haben als solche einen Amtseid auf unsere Verfassung geleistet. Wir haben in Waldesruh die Tatbestände einer schweren Körperverletzung und fast hundertfacher Nötigung. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das aufzuklären. Ob das einem Herrn Schittenhelm passt, kann da doch kein Kriterium sein!“
„Natürlich, an sich haben Sie recht. Aber“, und jetzt sprach er ganz leise, „die Welt ist nicht immer so, wie sie sein sollte.“
„Also – Bananenrepublik!“
„Das geht denn doch zu weit, Herr Travniczek, da muss man differenzieren.“
„Was heißt ‚differenzieren‘? Vor dem Gesetz sind alle gleich – steht in der Verfassung. Wenn das nicht gilt, sind wir nicht besser als irgendeine Bananenrepublik.“
Travniczek hielt inne, um Solms die Möglichkeit zum Antworten zu geben. Aber er hörte ihn nur weiter schwer atmen. Also fuhr er ganz sachlich fort: „Ich werde morgen die bisherigen Ergebnisse an Staatsanwalt Wurlitzer übergeben, damit er ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen versuchten Totschlags einleitet, und wir werden dann nach bestem Wissen und – das ist jetzt keine Floskel – Gewissen ermitteln. Dass dabei die Unterzeichner dieses Drohbriefs zunächst alle verdächtig sind, ist einfach Fakt. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.“
Solms hatte jede Gegenwehr aufgegeben.
„Dann tun Sie das. Aber ich bestehe darauf, dass Sie mir täglich über den Fortgang der Ermittlungen Bericht erstatten, und – seien Sie vorsichtig, Travniczek – Fingerspitzengefühl, Sie sind doch Pianist.“
Travniczek musste lachen. Ein solcher Zusammenhang zwischen Pianist und Kriminalist war ihm noch nie in den Sinn gekommen.
„Ich werde mir Mühe geben.“
„Das will ich hoffen. Dann nichts für ungut. Trotz allem noch einen schönen Sonntag.“
„Ebenso, Herr Direktor.“
Er legte auf und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Von seinen Kindern war noch nichts zu hören.
Er starrte gegen die Decke und versuchte, sich ausschließlich auf seinen Atem zu konzentrieren. Die Gedanken an dieses unselige Waldesruh wollte er jetzt unbedingt wegschieben. Es war Sonntag. Der musste seinen Kindern gehören. Er konnte doch nicht gleich wieder dort anfangen, wo er in München gescheitert war.
Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Eine kleine Zeit ging das so. Aber dann waren die Gedanken wieder da, gar nicht so sehr an Waldesruh, sondern ganz grundsätzlich. Wie verhielt es sich eigentlich mit Demokratie und Menschenrechten? Diese Schlagworte hörte man doch immer, wenn es darum ging, Andere – meist in fernen Ländern – ob ihrer Verfehlungen anzuklagen. Da fühlte man sich doch richtig gut. Aber wenn er gegen einen Spezi vom Spezi des Innenministers ermitteln musste, sollte er vorsichtig sein! Verhältnismäßigkeit, Fingerspitzengefühl. Der Herr Direktor wusste nicht, ob er ihn dann noch schützen konnte. – – –
Er hätte doch besser Pianist werden sollen.
Er sprang auf, zog sich so schnell er konnte an und verließ die Wohnung.
In der Rohrbacher Straße ein Stück in Richtung Heidelberg kannte er eine Bäckerei, wo man auch sonntags frische Brötchen bekam.
Erst am hellen Vormittag waren seine drei aufgewacht. Sie frühstückten zusammen in ausgelassener Stimmung und sein Ansinnen, Julia und Christian sollten sich doch gleich einmal im Internet über die Heidelberger Schulen informieren, wurde mit einem empörten „Doch nicht am Sonntag!“ gnadenlos abgeschmettert.
Es war über Nacht kälter geworden und die Sonne schien wieder vom wolkenlosen Himmel. Bernhard schlug einen Stadtbummel vor.
Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Bismarckplatz, schlenderten die Hauptstraße entlang, in der die Weihnachtsdekoration immer noch für Stimmung sorgen sollte. Julia und Christian mokierten sich über die Provinzialität der Angebote in den Geschäften, sahen dann aber doch begeistert einem Straßenkünstler zu, der in silbernem Ganzkörperoutfit eine Tanzpantomime vollführte.
Sie bogen dann zum Neckar hin ab und schlenderten gemächlich über die Alte Brücke. Der Blick über den Neckar, die verschneite Stadt und die umgebende Landschaft im strahlenden Sonnenlicht und bei tiefblauem Himmel war einfach grandios.
„Megageil!“, meinte Julia.
„Echt krönungsbedürftig“, steigerte Christian das noch.
O je, dachte der Vater, jetzt muss ich eine neue Sprache lernen.
Auf der nördlichen Neckarseite gingen sie weiter zum Wehrsteg* und der Vater erzählte, wie sein erster, äußerst dramatischer Fall 3in Heidelberg an dieser Stelle beinahe ein katastrophales Ende genommen hätte.
Sie überquerten wieder den Neckar und verweilten am Karlstor. Als der Vater erklärte, dass es nie eine Funktion hatte, sondern als Dankgeschenk der Bürger an Kurfürst Karl Theodor errichtet worden war, regte sich Julia sehr über so viel Verschwendung auf.
Danach fuhren sie mit der Bergbahn zum Schloss hinauf. Wie immer wimmelte es auch an diesem Sonntag von Touristen, doch der viele Schnee dämpfte alle Geräusche, so dass es viel stiller und auch geheimnisvoller wirkte als sonst.
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