Travniczek zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas hinein, ehe er fortfuhr.
„Das wissen wir noch nicht. Wir beginnen erst zu ermitteln, deswegen sind wir auch hier.“
„Wollen Sie damit etwa sagen, dass …“
„Ich will damit gar nichts sagen. Ich frage Sie nur, ob Sie eine Idee haben, wer das getan haben könnte.“
Kippenhan überlegte eine Weile.
„Nein, da kann ich mir niemanden vorstellen.“
„Aber Sie wissen doch sicher“, warf jetzt wieder Brombach ein, „es gibt im Dorf einen heftigen Aufruhr, weil Wolfgang Maurischat nach zehn Jahren Haft wieder bei seinem Vater eingezogen ist?“
„ Ja, das ist mir bekannt. Aber glauben Sie mir, ich kenne die Leute hier seit langem. Das wird sich bald legen.“
„Da wäre ich nicht so sicher. Kennen Sie dieses Schriftstück?“
Brombach legte ihm den Drohbrief vor. Kippenhan las ihn aufmerksam, wohl mehrere Male. Spielte er einfach Theater oder kannte er den Brief tatsächlich noch nicht?
„Das ist ja ein übles Pamphlet“, gab sich Kippenhan entrüstet.
„Sie sehen, wer alles unterschrieben hat“, sagte Travniczek. „Fast das ganze Dorf“, ergänzte Brombach.
Kippenhan überflog die Unterschriftenliste.
„Das hat wohl wieder Adalbert inszeniert, der Sohn vom Chef. Der wird dann mal wieder dazwischenfahren müssen.“
„Muss Ihr Chef oft ‚dazwischenfahren‘?“
Kippenhan ärgerte sich über seine unbedachte Äußerung.
„Lassen wir das jetzt. Das sind Familienangelegenheiten, die nicht hierhergehören. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt keine falschen Schlüsse ziehen. Adalbert ist zwar ein Feuerkopf, der manchmal handelt, ohne an die Folgen zu denken. Aber er ist mit Sicherheit kein Mörder.“
„Wer dann? Den Drohbrief haben fast alle Bürger von Waldesruh unterschrieben. Haben Sie eine Idee, wer von ihnen als Mörder in Frage käme?“
„Nein, habe ich nicht. Wir leben hier oben recht isoliert, kümmern uns kaum um das, was im Dorf vorgeht. Viele Namen auf Ihrer Liste kenne ich nicht mal, und schon gar nicht die Personen, die dahinterstehen.“
„Meinen Sie, dass Ihr Chef da besser Bescheid weiß?“
„Mit Sicherheit nein. Eher noch weniger.“
Travniczek beendete hier das Gespräch. Es war klar, mehr war aus Kippenhan im Augenblick nicht herauszubekommen.
Als das schwere Stahltor sich wieder hinter ihnen geschlossen hatte, meinte Brombach mit Wut im Bauch: „Der lügt doch wie gedruckt!“
„Natürlich, ich glaub ihm gar nichts. Aber der ist aalglatt und mit allen Wassern gewaschen. Es wird schwer werden, dem eine Lüge nachzuweisen.“
„Und er ist nur der Assistent. Wie ist dann erst der Alte selbst?“
„Wir werden ihn bald kennenlernen. Das wird ein heißer Tanz.“
Brombach hörte nicht mehr zu. Er war mit seinen Gedanken schon ganz woanders.
„Da ist noch etwas“, sagte er dann. „Ich weiß nicht, ob es dir auch aufgefallen ist.“
„Was meinst du?“
„Die Kellertreppe. Sie ist genauso edel ausgestattet wie das übrige Treppenhaus. Ist das nicht merkwürdig?“
Travniczek überlegte einen Moment.
„Zunächst zeigt das doch nur, der Schittenhelm stinkt vor Geld und will das jedem Besucher zeigen.“
Brombach schüttelte unwillig den Kopf. „Sorry, das reicht mir nicht als Erklärung. Die Treppe führt auf eine sehr edle Wohnungstür zu. Dort unten ist nicht nur einfach ein Keller.“
„Was sonst noch?“
„Was weiß ich? An der Außenwand sind da aber nur ein paar kleine vergitterte Fenster. Das passt doch nicht zusammen.“
Travniczek wurde nachdenklich. „Da könnte etwas dran sein.“
„Da würde ich gern gleich mal nachsehen.“
„Das glaub ich dir. Aber bitte nicht wieder im Alleingang. Du weißt, Solms schickt dich sonst zur Verkehrspolizei.“ 4
„Aber mit diesem Haus ist irgendetwas nicht in Ordnung, da möchte ich wetten.“
„Da kannst du recht haben. Aber ich sage dir, wir werden ganz eindeutige Indizien brauchen, um da einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen.“
Einigermaßen frustriert stapften sie durch den tiefen Schnee zurück. Sie hatten nichts erfahren, was sie weitergebracht hätte.
Es war dreiviertel elf. Travniczek setzte einen Rundruf in Gang, dass sich alle um 23 Uhr 15 zu einer Abschlussbesprechung bei Maurischat treffen sollten.
Sie kamen als Erste an und mussten mehrmals klingeln, bevor Maurischat aufmachte. Er war eingeschlafen. Nacheinander trudelten die Anderen ein. Sie hatten ihre Listen weitgehend abarbeiten können.
Zuerst berichtete Brombach, was Adalbert Schittenhelm ausgesagt hatte. Schnell stellte sich heraus, dass alle Aussagen damit nahezu identisch waren. Niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Alle hatten für die fragliche Zeit ein Alibi, das sie sich gegenseitig gaben. Die Einschätzung von Adalbert Schittenhelm, dass und warum keiner der Bürger von Waldesruh als Täter in Frage kam, wurde durchgängig vorgetragen. Die Streifenpolizisten hatten also richtig beobachtet. Sie stießen auf Absprachen, Lügen und Mauern.
„Das werden sicher noch ganz schwierige Ermittlungen“, fasste Travniczek resigniert zusammen. „Wenn wir morgen die Vernehmungsprotokolle genau untersuchen, können wir vielleicht den einen oder anderen Widerspruch feststellen und daran ansetzen. Aber groß ist meine Hoffnung da nicht. Eine Frage noch: Gab es Auffälligkeiten im Verhalten der Vernommenen, also Personen, die besonders ängstlich beziehungsweise unsicher wirkten oder umgekehrt besonders selbstsicher?“
Auch da hatten die Ermittler wenig Greifbares herausgefunden. Mampel, der Exkommissar, sei sehr laut und auch beleidigend gewesen: Die heutige Kripo hätte eh keine Ahnung, wie man vernünftig ermittle. Auf der anderen Seite habe Jauerneck, der Ortsvorsteher, sehr nervös gewirkt und Eberhard Kurz habe ganz offen zugegeben, dass er den Brief nur wegen des Gruppenzwangs unterschrieben habe. Er wohne erst seit kurzem in Waldesruh und wolle einfach dazugehören. Und vom Maler Mostacci sagten sie, er habe sich über die Ermittlungen nur lustig gemacht.
„Also, diese vier werden wir uns dann auf jeden Fall noch einmal vorknöpfen“, meinte Travniczek. „Vielleicht fallen die ja um. Aber für heute machen wir Schluss.“
Travniczek veranlasste noch, dass bis auf weiteres ein Streifenwagen vor Maurischats Haus Position beziehen sollte.
Kurz vor Mitternacht brachen die Polizisten endlich auf. Als sie die Haustür öffneten, fiel ein Blatt Papier auf den Boden, das wohl jemand in die Türritze geklemmt hatte. Brombach hob es auf.
„Ein Brief“, sagte er und trat zurück in den Flur, um besser lesen zu können. „Handschrift ziemlich ungelenk, könnte von einem Kind stammen.“
„Und was steht da?“, fragte Travniczek.
Brombach las und schüttelte den Kopf. „Lies selbst!“
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Tagebuch - 19.2.
Weil mir noch alles furchtbar weh tat, bin ich heute Morgen ganz früh aufgewacht. Es war noch stockdunkel. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Mir fiel eine ganz alte Geschichte ein. Lange bevor ich in die Schule gekommen bin. Wir waren am Meer. Vater wollte unbedingt, daß ich schwimmen lerne. Aber ich hatte solche Angst. Da zog Vater mich hinaus ins tiefe Wasser. Plötzlich ließ er mich los. Ich zappelte und schrie, konnte mich aber nicht über Wasser halten. Vater ließ mich untergehen und zog mich erst nach einer Weile wieder hoch. Er schrie mich an: „Du sollst schwimmen!“ Und er gab mir zwei Ohrfeigen. Dann ließ er mich wieder los. So ging das ein paarmal. Dann kam plötzlich ein Mann herbeigeschwommen. „Sie hören damit sofort auf!“, schrie er Vater an. „Sonst rufe ich die Polizei.“ Polizei – davor hatte Vater Respekt. Er schwamm mit mir zurück. Am Abend hat er mich dann aber wieder verhauen. Und ich hatte doch gar nichts gemacht.
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