Jetzt schliefen im Nebenzimmer Bernhard und Christian, im Wohnzimmer auf der Couch Julia. Alle waren beisammen, die er liebte. Marion vermisste er nicht. Und doch stieg in ihm die Angst auf, wieder zu versagen, der Situation wieder nicht gewachsen zu sein. Oder wollte er in Wahrheit gar nicht mit jemandem zusammenleben?
Da hörte er in sich den Anfang der großen Schubertsonate und fragte sich wie schon so oft: Zu wem spricht Schubert hier eigentlich? Spricht er überhaupt zu jemandem? Bei vielen anderen Komponisten ist das klarer. Wenn Bach eine Fuge schreibt, hält er Zwiesprache mit Gott. Beethoven war der Komponist, der den Menschen, allen Menschen, am meisten zu sagen hatte. „Volksreden an die Menschheit“ nannte ein Philosoph 1des letzten Jahrhunderts seine Sinfonien. Und Schubert?
Aus der großen Klaviersonate kam ihm eine spezielle Passage in den Sinn, die ihn jedes Mal, wenn er sie spielte, neu in ihren Bann zog. Eine Melodie mit Abschied nehmendem Charakter zerbröckelt gleichsam und mündet in eine starre Fragegeste, kalt wie Eis. Statt einer Antwort wird die Melodie wiederholt und mündet wieder in dieselbe Frage, die jetzt über immer lauter werdende Akkordballungen ins harmonische Nirgendwo führt. Dann bleibt nur noch diese Fragegeste übrig, mehrfach wiederholt in wachsender Intensität – Akkordfolgen von äußerster Brutalität – und dann die Antwort: Der tiefe Triller, der am Anfang des Satzes ganz leise fernes Unheil ankündigt, jetzt so laut wie möglich zu spielen. Das ist das Unheil selbst! Das Unheil, dem niemand ausweichen kann, das alle Schönheit dieser Welt vernichtet. …
Lange Pause – und als ob nichts geschehen wäre, beginnt die Musik wieder von vorne, der ganze lange erste Abschnitt wird wiederholt.
Und das komponierte ein Mensch wenige Wochen vor seinem viel zu frühen Tod.
An wen richtete sich diese Musik eigentlich? Wer war hier angesprochen?
Wahrscheinlich niemand. Hier sprach eine tief verwundete Seele mit sich selbst. Eine Seele, die zu groß war für diese Welt, die es aber nicht ertrug, von dieser Welt nicht verstanden zu werden, und sich dennoch ständig äußern musste in einer schier unfassbaren Zahl verschiedenster Kompositionen 2, sich darin selbst verzehrte und den Körper, dem sie innewohnte, so zerstörte, dass er sein einunddreißigstes Jahr nicht überleben konnte.
Warum hatte ihn diese Musik schon immer so fasziniert? Es war eine Musik des Todes, so viel hatte er begriffen. Und er war Kriminalist geworden, seit Jahren in der Mordkommission, stand also ständig mit dem Tod auf du und du, und zwar mit dem Tod in seiner brutalsten Form.
Nicht mehr weiterdenken jetzt.
Er sprang aus dem Bett und legte seine Schlaf-CD ein. Sie begann mit der Einleitungssinfonia der Bachkantate „Ich hatte viel Bekümmernis“. Auch das eine tieftraurige Musik. Aber eine Traurigkeit, in der er den Keim der überschäumenden Freude schon hören zu können glaubte, zu der diese Kantate schließlich führen würde. Seine tiefen inneren Spannungen lösten sich und er fühlte sich wie auf Wogen davongetragen. Noch ehe die Sinfonia verklungen war, war er eingeschlafen.
Tagebuch - 20.2.
Vielleicht laufe ich einfach weg, weit weg, wo Vater mich nicht finden kann. Aber ich weiß nicht wohin. Oma hat gesagt, ich soll mal zum Herrn Pfarrer gehen und ihm alles erzählen. Der wird mir bestimmt helfen. Aber der Herr Pfarrer war schon böse, weil ich überhaupt zu ihm gekommen bin. Dann habe ich angefangen zu erzählen. Aber er wollte gar nicht zuhören. Er fing sofort vom vierten Gebot an. Ich mußte es aufsagen. „Der liebe Gott will, daß Kinder immer ihren Eltern gehorchen“, hat er gesagt.Will der liebe Gott auch, daß Vater mich dauernd schlägt?
Kurz nach sieben klingelte das Telefon. Erst nach dem sechsten Läuten realisierte Travniczek, dass er wohl gemeint war, griff schlaftrunken nach dem Hörer und riss dabei das Telefon vom Nachttisch.
Da war es still.
Travniczek ließ auch den Hörer auf den Boden fallen und zog die Bettdecke über den Kopf. Es dauerte ein paar Minuten, dann meldete sich sein schlechtes Gewissen.
‚Du solltest doch mal nachsehen, wer angerufen hat. Vielleicht war es ja wichtig.‘
Er drehte langsam den Kopf in Richtung Telefon. Da erhob sich groß und übermächtig sein innerer Schweinehund, sah ihn mit den treuherzigen Augen eines Golden Retriever an und sagte ganz lieb: ‚Joseph, du brauchst noch viel Schlaf, denn du hattest gestern einen sehr schweren Tag und bist erst sehr spät eingeschlafen. Glaub mir, wenn es wichtig war, wird sich der Anrufer bestimmt noch einmal melden.‘
Travniczek gehorchte aufs Wort und drehte sich noch einmal auf die andere Seite. Aber obwohl er die Bettdecke vollständig über den Kopf gezogen hatte, störte ihn etwas und er konnte nicht wieder einschlafen. Von irgendwo her erklang ganz leise ein hoher Dauerton. Hat sich bei mir über Nacht ein Tinnitus eingestellt, fragte er sich erschrocken. Doch dann kam ihm der Gedanke, es könnte sich um das Freizeichen des am Boden liegenden Telefons handeln. Also zog er die Bettdecke weg und der Ton wurde tatsächlich lauter. Er stand jetzt nicht etwa auf, sondern schob sich nur an die Bettkante, griff nach unten und zog Telefon samt Hörer an den Anschlusskabeln zu sich hoch. Nach einigen Fehlversuchen schaffte er es schließlich, das Gerät wieder auf den Nachttisch zu befördern und den Hörer an seinen angestammten Platz zu bugsieren.
So, jetzt hab ich Ruhe, freute er sich. Doch es dauerte nicht lange und es klingelte erneut. Sofort flüsterte ihm der innere Schweinehund zu: ‚Warte, bis der Anrufer aufgibt, dann hast du sicher endgültig Ruhe.‘ Doch, o Wunder, diesmal gewann das schlechte Gewissen und er nahm den Hörer ab.
„Ja“, brummte er kaum hörbar.
„Solms hier!“
O je, wenn Sonntag morgens der Polizeidirektor anrief, versprach das sehr unangenehm zu werden.
„Was haben Sie sich eigentlich gedacht bei Ihrer völlig überzogenen Aktion gestern in diesem Kuhdorf im Odenwald?“
Travniczek fühlte sich irgendwie geohrfeigt, war aber noch nicht wach genug, um diese Attacke sofort parieren zu können.
„Moment mal, wovon reden Sie eigentlich?“, versuchte er Zeit zu gewinnen.
„Werden Sie jetzt nicht auch noch unverschämt! Sie haben gestern wegen einer Lappalie ein ganzes Dorf verhört und in Angst und Schrecken versetzt. Haben Sie denn überhaupt kein Gespür für Verhältnismäßigkeit?“
Plötzlich war er hellwach.
„Entschuldigen Sie, von wem haben Sie diese Information? Ich glaube, Sie sind …“
„Von wem ich diese Information habe? Vom Innenminister persönlich! Er hat mich heute Morgen um halb sieben, verstehen Sie, um halb sieben angerufen und eine Erklärung verlangt. Ein Bürger des Dorfes, mit dem er befreundet sei, der sich obendrein um unser Land durch viele großzügige Spenden verdient gemacht habe, hätte sich beschwert und massive Konsequenzen gefordert.“
Aha, dachte Travniczek, es geht los: Dieser „Bürger“ kann nur Ansgar Schittenhelm sein. Der Herr hat also Beziehungen bis ganz nach oben.
Er ging zum Gegenangriff über: „Herr Direktor, gestern in diesem Kuhdorf namens Waldesruh – das war Mordversuch mit Ansage. Und wir verdanken es nur einem glücklichen Zufall, dass es beim Versuch geblieben ist. – Und jetzt erwarte ich, dass Sie zunächst meinen Bericht über die gestrige Aktion zur Kenntnis nehmen, bevor Sie mich weiter grundlos attackieren. Sonst ist das Gespräch für mich beendet. Schließlich ist heute Sonntag.“
Er sah ganz plastisch vor sich, wie Solms mit offenem Mund völlig verdutzt auf den Hörer starrte. Eine solche Gegenwehr hatte er in seiner Zeit als Polizeidirektor wahrscheinlich noch nicht erlebt. Travniczek nutzte das und begann einfach zu berichten. Solms hörte tatsächlich zu, ohne ihn zu unterbrechen.
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