Inzwischen war hinter Venske seine Kollegin aufgetaucht, der man ansah, dass sie sich im Augenblick nichts sehnlicher wünschte, als sich unsichtbar machen zu können.
„Dann brauche ich Sie jetzt doch noch. Gehen Sie bitte ortseinwärts und läuten Sie an den nächsten Häusern. Fragen Sie nach, ob jemand etwas gehört oder gesehen hat.“
„Verstanden. Das werden wir rausfinden“, antwortete Venske, drehte sich schnell um und ging mit seiner Kollegin die Dorfstraße hinein. Sie wollten sich unbedingt rehabilitieren.
Travniczek sah ihnen nach. Schnell wurden sie im dichten Schneegestöber undeutlicher, bis er nur noch ihre Umrisse erkennen konnte, die sich dann auch auflösten.
Jetzt erst fiel ihm der diffuse rötliche Schein auf, der von weit hinten oben am Berghang ausging und sich über das ganze Dorf legte. Seine Quelle war durch das Schneetreiben verborgen. Was konnte das sein? Zuerst dachte er an Feuer. Aber dazu hätte der Lichtschein unruhiger sein müssen. Es konnten auch ein paar starke Scheinwerfer sein, aber wofür sollten die in so einem winzigen Dorf dienen? Die latente Beklemmung, die sich seiner zu bemächtigen begann, bemerkte er noch nicht. Er hörte das ganz leise Wispern des fallenden Schnees. Irgendwo bellte ein Hund. Weiter entfernt antwortete ein anderer. Sonst war der Ort wie ausgestorben.
Nur die vordersten Häuser waren im dunklen Weiß des nächtlichen Schnees noch einigermaßen deutlich zu erkennen. Der löste weiter hinten die Konturen in flimmernde Bewegung auf. Es kam ihm vor, als ob die Häuser mit dem spitzen Kirchturm schemenhaft zu einer lautlosen Musik tanzten. Wo war er da hineingeraten? Von dem rötlichen Leuchten schien ihm ein Sog auszugehen. War das vielleicht alles gar nicht wirklich? War das ein Spuk, ein Tanz von bösen Geistern, die ihn in ihren Bann ziehen wollten, um ihn niemals wieder freizugeben? War das rote Leuchten nicht gar so etwas wie der Eingang zur Hölle?
Da – auf der anderen Straßenseite hinter einem Zaun – Bewegung: Zwei Gnome mit Mütze und dickem Wams? – – – Nein, es waren Kinder mit Pudelmützen, so in dicke Winterjacken eingemummelt, dass er nicht ausmachen konnte, ob es Jungen oder Mädchen waren. Sie mochten vielleicht zehn Jahre alt sein. Trotz der schwachen Beleuchtung glaubte er zu erkennen, dass es nicht Neugier war, die sie zum Haus herübersehen ließ, sondern eher so etwas wie bange Erwartung.
„Kommt ihr mal her?“, rief er und winkte ihnen aufmunternd zu. Aber die Kinder sahen sich nur kurz erschrocken an. Dann zog eines das andere fort und sie waren sogleich zwischen den Häusern verschwunden.
Warum liefen die so aufgeschreckt davon? Hatten sie Angst? Aber wovor?
„Hallo, sind Sie Kommissar Travniczek?“
Einen Moment setzte sein Herz aus. Dann drehte er sich um und sah einen jungen, großgewachsenen Mann aus dem Haus kommen.
„Ja, ... Wolfgang Maurischat?“
Der junge Mann nickte. Trotz der schwachen Beleuchtung erschien er Travniczek unmittelbar sympathisch.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Travniczek.
„Natürlich.“
Maurischat führte ihn in das Wohnzimmer. Auf dem hellen Teppichboden unmittelbar vor einem nierenförmigen Couchtisch sah er einen großen Blutfleck. Nicht weit davon entfernt lag ein schwerer Ziegelstein. Durch die zerborstene Fensterscheibe konnten Kälte und Schnee ungehindert eindringen.
Travniczek ließ den Rollladen herunter.
„Ich sollte doch alles so lassen, wie es war“, entschuldigte sich Maurischat verlegen.
„War auf jeden Fall richtig, aber erfrieren brauchen wir deshalb trotzdem nicht. – Wie geht es Ihrem Vater?“
„Der Arzt meinte, außer der Platzwunde wahrscheinlich nur eine leichte Gehirnerschütterung. Er war wieder bei Bewusstsein, als er vorhin in die Klinik gebracht wurde.
„Glück im Unglück“, sagte Travniczek und atmete erleichtert auf. Er zog seinen Mantel aus, warf ihn auf einen Stuhl und setzte sich auf die schon ziemlich abgewetzte beige Couch. Er merkte jetzt erst, wie eng und niedrig das Zimmer war.
„Das hat Sie doch sicher erst mal beruhigt. Übrigens, warum stehen Sie?“
Wolfgang setzte sich neben ihn. Befangen hielt er so viel Abstand wie möglich.
„Hat Ihr Vater noch irgendetwas zu dem Anschlag sagen können?“, fragte Travniczek sofort.
Maurischat schüttelte den Kopf.
„Nein, als ich kam, war er nicht ansprechbar, … und später wollte ich nicht nachfragen.“
„Das war sicher richtig. Aber jetzt zu Ihnen. Sie sind also gestern aus der Haft entlassen worden und ...“
„Ja, bin ich“, fuhr er auf. „Aber nachdem, was ich hier schon erlebt habe, wäre ich vielleicht besser dortgeblieben.“
Er war aufgesprungen und starrte auf die zertrümmerte Fensterscheibe und den dunkelbraunen Rollladen dahinter. Travniczek ließ ihm Zeit, ehe er fragte: „Können Sie mir kurz berichten, was seit Ihrer Ankunft hier passiert ist?“
Maurischat drehte sich langsam um und sah den Kommissar ausdruckslos an.
„Ich kam gestern so gegen sechs hier an. Wir hatten uns gerade zum Abendessen hingesetzt, da läutete es. Vater ging an die Haustür, aber da war niemand. … Er fand nur dieses Paket, so eine Art ‚Begrüßungsgeschenk‘ für mich, von den Bürgern von Waldesruh.“
Er holte das Gemälde, das an eine Wand gelehnt stand. „Das soll angeblich Berit und mich darstellen.“
Travniczek sah auf das Bild und erschrak über die abgrundtiefe Bösartigkeit, mit der ihn die Teufelsfratze anstarrte.
„Dazu haben die mir auch noch einen Brief geschrieben. Hier!“
Er reichte ihm das Schriftstück, das noch auf dem Couchtisch lag. Vater Maurischat hatte es Travniczek am Telefon ja schon vorgelesen. Dennoch las er es nochmals sehr aufmerksam.
Er empfand die gleiche Beklemmung wie vorher draußen beim Blick über das Dorf. Stand da nicht noch etwas zwischen den Zeilen? War die ja irgendwie nachvollziehbare Reaktion der Dorfbewohner auf das, was sie für das Böse hielten, nur Fassade? Oder bildete er sich das nur ein? Das rötliche Leuchten von oberhalb des Dorfes kam ihm in den Sinn. Nachdenklich faltete er den Brief zusammen.
„Darf ich den mitnehmen?“
„Ja, natürlich.“
Wolfgang Maurischat stand immer noch vor dem Fenster. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen fast geschlossen.
Was ging in ihm vor? Plante er etwas, fragte sich Travniczek. Und ihm war klar: Wenn jetzt noch etwas passierte, dann brannten bei Maurischat womöglich alle Sicherungen durch.
„Setzen Sie sich doch bitte wieder“, forderte Travniczek ihn auf. Aber er blieb bewegungslos stehen.
Nach einer kleinen Pause fragte Travniczek: „Was ist dann noch weiter passiert, nachdem Sie das Paket erhalten haben?“
Ohne seine Haltung zu verändern, antwortete Maurischat leise, scheinbar ohne jede Gefühlsregung: „Ich habe noch eine Zeitlang mit meinem Vater gesprochen, bin dann aber sehr bald ins Bett gegangen, konnte aber kaum schlafen. Habe fast die ganze Nacht gegrübelt. Heute Morgen bin ich dann so gegen zehn aus dem Haus gegangen. Bin ziellos durch den Wald gelaufen, um mir klarzuwerden, wie es weitergehen soll. Als ich kurz vor vier zurückkam, fand ich dann meinen Vater hier in seinem Blut liegen. Den Rest kennen Sie.“
Travniczek versuchte, ihn etwas aufzurichten.
„Herr Maurischat, ich habe Ihre Ermittlungsakte gelesen und kann Ihnen sagen, ich halte die Chance, Ihren Fall neu aufzurollen, für relativ groß. Und der Anschlag auf Ihren Vater ist gefährliche Körperverletzung oder sogar ein Mordversuch. Der Staatsanwalt muss daraufhin Ermittlungen einleiten, die ich führen werde. Dabei werde ich sicher auch versuchen herausfinden, was vor zwölf Jahren tatsächlich passiert ist.“
In Maurischats Gesicht kam ein wenig Leben. Er setzte sich wieder neben Travniczek und sah ihn erwartungsvoll an.
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