Verachtung, ja Hass sprach aus diesen Worten.
„Heißt das, dieser Waldemar Schittenhelm wäre ihm als Schwiegersohn sehr viel lieber gewesen?“
„Mit Sicherheit. Ein angehender Rechtsanwalt, Neffe des großen Ansgar Schittenhelm – das wär‘s gewesen.“
Travniczeks Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er witterte einen Zusammenhang zwischen Berits Verschwinden und der Haltung ihres Vaters zu ihrem Verhältnis mit Wolfgang Maurischat. Er musste unbedingt an die Gerichtsakten kommen und herausfinden, ob und vor allem was Berits Vater vor Gericht ausgesagt hatte.
„Hatten Sie nach dem Prozess noch einmal Kontakt mit dem Herrn Professor?“
„Nein, es gab keine Veranlassung.“
„Und Berits Mutter?“
„Die kannte ich kaum. Wissen Sie, diese Familie war wohl schon seit langem völlig zerrüttet und Berit hatte sich im Grunde schon innerlich von ihren Eltern verabschiedet. Soweit ich mich erinnern kann, hat sie nie von ihnen gesprochen.“
„Eine Frage noch. Wissen Sie, wo Berits Eltern jetzt wohnen?“
„In Heiligkreuzsteinach jedenfalls nicht mehr. Mehr weiß ich leider nicht.“
„Gut. Ich kann heute Abend gegen sieben bei Ihnen sein. Passt das?“
„Ja, natürlich.“
„Und Ihr Sohn ist dann auch da?“
„Dafür werde ich sorgen.“
„Dann bis heute Abend.“
Tagebuch - 22.1.
Vater hat mich angeschrien. Wenn ich nicht zugebe, daß ich die Vase runtergeworfen habe, schlägt er Mama tot. Ich habe es dann zugegeben. Vater hat Mama losgelassen und mich in sein Arbeitszimmer gezerrt. Ich mußte mich ganz ausziehen. Dann hat er mich fürchterlich mit dem Gürtel verprügelt. So schlimm war es noch nie. Überallhin hat er geschlagen. Er war ganz rot im Gesicht. Irgendwann stöhnte er ganz heftig. Dann hat er aufgehört zu schlagen. Er hat mich in den Keller geschleift und mich dort eingesperrt.
Nach dem Telefonat wollte Travniczek endlich sein Studium der großen Schubertsonate fortsetzen. Aber es wurde nichts daraus. Noch ehe er am Klavier saß, klingelte sein Telefon. Ärgerlich nahm er den Hörer ab. Es war sein Kollege Brombach: „Joseph, du musst ins Präsidium kommen. Der KDD 1hat heute Nacht ein Tötungsdelikt aufgenommen. Ein Mann hat seine Ehefrau mit über zwanzig Messerstichen getötet. Er konnte direkt am Tatort festgenommen werden und ist geständig. Er hat sogar selbst die Polizei angerufen. Deswegen haben die uns gar nicht erst dazu geholt. Aber jetzt müssen wir ihn vernehmen.“
Zwanzig Minuten später saßen Travniczek und Brombach im Verhörraum Eins einem Herrn Sebastian Kärcher gegenüber.
Er war nach dem Protokoll der Erstvernehmung durch den KDD sechsunddreißig Jahre alt, von Beruf Sachbearbeiter bei der Rentenversicherung und noch nie polizeiauffällig geworden.
Travniczek fragte seine persönlichen Daten ab, ehe er ihn aufforderte, den Ablauf des Geschehens zu schildern. Bereitwillig, aber sehr umständlich berichtete Kärcher folgenden Sachverhalt:
Am Tag vor Sylvester war seine Frau ohne Vorankündigung weggefahren, während er auf der Arbeit war. Sie hatte ihm einen Brief hinterlassen mit der Mitteilung, sie müsse einfach eine gewisse Zeit nachdenken. Am Tag nach Neujahr würde sie zurückkommen. Er hatte das erst sehr gefasst aufgenommen, war dann aber immer nervöser geworden. Am Tag nach Neujahr musste er sich krankmelden, weil er völlig durcheinander war. Er hatte dann tagsüber eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken und war schließlich auf der Wohnzimmercouch eingeschlafen. Plötzlich stand dann seine Frau vor ihm und erklärte, sie würde ihn für immer verlassen. Dann brach seine Erinnerung ab. Später fand er sich am Boden sitzend mit einem blutigen Küchenmesser in der Hand neben seiner blutüberströmten, toten Frau. Er brauchte eine Weile, um zu realisieren, was er getan hatte, und rief dann die Polizei.
Um sich dem Motiv für diese grauenhafte Tat zu nähern, ließ sich Travniczek Kärchers Lebensgeschichte erzählen. Es war eine deprimierende Biographie. Der Mann berichtete von einem ständig betrunkenen Vater, der ihn und seine Mutter immer wieder geschlagen hatte, von den Kämpfen seiner Mutter, sich und ihn aus dieser Situation zu befreien; davon, dass er später immer wieder die kleine Wohnung verlassen musste, weil die Mutter fremde Männer empfing und er erst sehr viel später begriff, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdiente; von den Qualen seiner Schulzeit, in der er als Loser und typisches Opfer behandelt wurde; und so ging es weiter.
Irgendwann klopfte es an der Tür und Melissa Siebert sah herein.
„Entschuldigung, Chef, ich hab da einen Mann am Telefon, der will unbedingt mit Ihnen sprechen. Es klingt sehr dringend. Er scheint mir vollkommen durcheinander.“
Etwas verärgert fragte Travniczek: „Wie heißt er?“
„Ich hab den Namen nicht genau verstanden: Mauwisch … oder so ähnlich.“
„Maurischat?“
„Ja, kann sein.“
„Mist! Was ist da jetzt passiert? Ich komme.“
Erregt meldete er sich: „Travniczek hier. Mit wem spreche ich?“
„Wolfgang, Wolfgang Maurischat, Sie wissen, wer ich bin?“
Ehe Travniczek antworten konnte, redete er weiter. Die Stimme klang hektisch und zerfahren und war kaum zu verstehen.
„Mein Vater! … Überall ist Blut! … Wenn er tot ist! Ich kann nicht mehr!“
„Ihr Vater ist verletzt? Haben Sie schon den Notarzt gerufen?“
„Notarzt … Notarzt … ich weiß ja nicht, wie … ich weiß … weiß ja gar nichts mehr … was soll ich denn …“, schrie Wolfgang Maurischat panisch.
Travniczek merkte, wie sich diese Panik auf ihn übertrug. Warum verlor er eigentlich die professionelle Distanz, fragte er sich. Er musste seine ganze Konzentration aufbringen, um ruhig und betont deutlich weiterzusprechen: „Herr Maurischat, Sie rufen jetzt sofort die 112 an. Dort bekommen Sie den Notarzt. Haben Sie mich verstanden? Die 112! Das ist jetzt das Wichtigste. Wie hat sich Ihr Vater verletzt?“
„Die Fensterscheibe … überall liegen Scherben … und ein großer Stein ... er blutet fürchterlich aus dem Kopf … er verblutet noch … Ich weiß überhaupt nicht …“
„Also ein Mordanschlag! Dann noch mal: Sie rufen jetzt erst die 112 an und sagen unbedingt, es besteht akute Lebensgefahr. Sie bleiben aber auf jeden Fall, wo Sie sind. Haben Sie verstanden? Sie fassen möglichst nichts an, es sei denn, es geht um die Hilfe für Ihren Vater. Ich schicke Ihnen umgehend eine Polizeistreife vorbei und versuche selbst, so schnell wie möglich bei Ihnen zu sein. Herr Maurischat, Sie haben mich verstanden?“
„Ja, ja, … sicher.“
„Gut. Aber nicht vergessen: Sofort die 112 anrufen!“
Travniczek legte auf.
„Was sind das denn für Idioten in diesem Kaff?“, schimpfte er so laut, dass Melissa Siebert erschrocken von ihrem Schreibtisch aufsprang. „Wenn sie den Jungen nicht haben wollen, kann ich das ja irgendwie nachvollziehen. Aber warum wollen sie dann den Alten umbringen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!“
Er rief den Streifendienst an, dass sofort jemand bei Maurischats vorbeifahren sollte, es ginge um einen Mordanschlag, habe also allerhöchste Priorität. Dann suchte er verzweifelt nach seinem Mantel.
„Den haben Sie doch erst im Verhörraum ausgezogen“, half ihm Melissa Siebert. Dorthin musste er ohnehin noch einmal, um Brombach zu sagen, er sollte die laufende Vernehmung alleine weiterführen und dann nach Waldesruh nachkommen.
Ausgerechnet jetzt hatte es wieder heftig zu schneien begonnen. Die Fahrt nach Waldesruh hinauf konnte schwierig werden und er wollte auf keinen Fall riskieren, irgendwo steckenzubleiben. Er rief die Kollegen von der Verkehrspolizei an. Der Pass über den Langen Kirschbaum* sei wegen Schneebruchgefahr gesperrt, hieß es. Die Routen über Schriesheim oder Neckarsteinach seien im Moment noch frei. Wie lange noch, sei fraglich.
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