Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass es inzwischen nicht mehr regnete, sondern sogar die Sonne durch die dunklen Wolken blinzelte. Ich setzte mich ins Auto und wollte gerade starten, als mein Mobiltelefon klingelte. Auf dem Display erkannte ich, weil meine Lesebrille noch auf meiner Nase saß, dass es Nele war, die mich anrief.
„Hallo, Nele, mein Schatz“, meldete ich mich, „ich bin schon fertig mit der Arbeit und praktisch auf dem Weg zu dir. Ich möchte vorher nur noch eine Kleinigkeit einkaufen.“
„Hallo, Mamilein“, sagte Nele, „ich muss dir leider für heute absagen. Ich habe die Schicht im Studio wechseln müssen und bin bereits auf dem Weg dorthin.“
„Na, dann komme ich eben morgen Vormittag zu dir. Am Dienstag bin ich immer erst am Nachmittag in der Praxis“, schlug ich vor.
„Mir geht es morgen auch nicht aus. Ich habe frühestens am kommenden Freitag Zeit. Wann bist du denn an diesem Tag mit deiner Arbeit fertig?“ fragte meine Tochter.
Freitags hatte ich meistens nicht besonders viel zu tun. Weiß der Kuckuck, warum die Leute kurz vor dem Wochenende keine Termine mit mir machen wollten. Weil ich, bevor ich die Praxis verlassen hatte, meinen Wochenplan durchgesehen hatte, wusste ich, dass mein letzter Patient um halb zehn kommen würde. Deshalb sagte ich:
„Wenn nichts dazwischen kommt, könnte ich um elf Uhr, vielleicht auch schon etwas früher bei dir sein.“
„Das passt wunderbar“, meinte Nele, „ich freue mich auf dich. Und ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
„Gut, dann bis Freitag! Tschüss, mein Schatz“, sagte ich, drückte Cornelia weg und beschloss, die gewonnene Zeit zu nützen, indem ich wieder einmal joggen ging. Vielleicht hatte ja Silvia oder Anna Zeit, um mich zu begleiten.
Kapitel 4: Zu viel Obst für Nele
Am Freitag pünktlich um elf Uhr erklomm ich mit zwei schweren Säcken, gefüllt mit Obst, gehörig schnaufend die vielen Treppen zu Jans und Neles Altbauwohnung, die im dritten Stock eines Hauses ohne Lift lag. Ich sollte wirklich ein wenig konsequenter an meiner Kondition arbeiten – nahm ich mir zumindest vor.
Bevor ich hergefahren war, hatte ich im Supermarkt das Obst für Cornelia besorgt und bei dieser Gelegenheit gleich meinen Wochenendeinkauf erledigt. Den konnte ich getrost im Auto liegen lassen, weil es wieder einmal trüb, kühl und windig war.
Auf dem Weg vom Supermarkt zu Nele war ich ein wenig nervös. Da sich meine Tochter – wir hatten inzwischen einige Male telefoniert – weiterhin konsequent weigerte, den Namen des Kindsvaters zu nennen, wollte ich heute versuchen, Jan als solchen zu überführen, und hatte mir zu diesem Behufe einen hübschen Plan zurechtgelegt.
Dazu musste ich nur zu einem erotischen Slip von Nele gelangen. Für den Fall, dass wir ihr Zimmer gar nicht betreten würden, hatte ich vorgesorgt: Ich hatte schon vor ein paar Tagen Neles Lieblingspralinen im Süßwarenspezialgeschäft erstanden und hübsch verpackt. Ich würde also sagen, ich hätte ein Überraschungsgeschenk für sie und wolle es in ihrem Zimmer deponieren. Dann würde sie mich gewiss allein „ihr Reich“ – wie sie es nannte – betreten lassen und ich würde mich unbeobachtet an ihrem Wäscheschrank bedienen können.
Irgendwie würde ich in weiterer Folge schon die Gelegenheit dazu haben, das heiße Dingsda in Jans Zimmer zu schmuggeln. Ich musste nur lange genug in der Wohnung bleiben. Einmal musste Jan ja sicherlich Pipi machen. Jeder Mensch musste schließlich ab und an Pipi machen.
Und wenn er dann wieder in seinem Zimmer verschwunden sein würde, würde ich scheinheilig freundlich anklopfen, ihn scheinheilig freundlich begrüßen und dann zufällig das heiße Dingsda entdecken.
Wenn ich ihm allerdings schon vorher irgendwo in der Wohnung begegnen würde, würde ich mich eben scheinheilig freundlich von ihm verabschieden und dann zufällig das erotische Dessous entdecken.
„ Ach Jan, Sie sind mir aber einer! Sie haben doch nicht etwa mit Nele, na, Sie wissen schon, was“, würde ich dann sagen und das Höschen als Beweisstück demonstrativ in die Höhe halten. An seiner Reaktion würde ich schon erkennen, was Sache ist.
Blieb nur noch zu hoffen, dass er überhaupt zuhause war.
Als ich die letzten Treppen geschafft hatte, stand Nele schon an der Tür und erwartete mich. „Schön, dass du da bist, Mamilein“, schnurrte sie, und dann umarmte und drückte sie mich wie immer herzlich und küsste mich zuerst auf die linke, dann auf die rechte Backe.
Wenn man Neles geräumige Altbauwohnung betrat, kam man zuerst in eine riesige, fast quadratische Diele, die gleichzeitig von Nele als ihr Atelier genutzt wurde. Hier stand ihre Staffelei, und Unmengen ihrer Zeichnungen und Gemälde waren im Raum verteilt. Obwohl es hier kein Tageslicht gab – außer man ließ die Zimmertüren offen – war der Raum durch zahlreiche Lampen, die an den Wänden und an der Decke montiert waren, hell erleuchtet.
Gleich neben dem Eingang befanden sich Badezimmer und Toilette.
An der rechten Wand des Ateliers führte eine Pforte in Neles fast dreißig Quadratmeter großes Reich, das mit vier hohen Fenstern ausgestattet und deshalb sehr hell war.
Gegenüber gab es zwei Türen: Die rechte führte in Jans Zimmer, die linke in einen von beiden genutzten hellen, geräumigen Wohnraum.
An der, vom Eingang aus betrachtet, linken Wand gelangte man in die Küche. Zwischen diesem Raum und dem Wohnzimmer gab es nur einen Durchbruch. Und sowohl von der Küche als auch vom Wohnzimmer aus konnte man auf einen Balkon hinaustreten, der in einen grünen Innenhof ragte.
Nele führte mich an diesem Vormittag gleich in die Küche. Die Tür zu Jans kleinem Reich war geschlossen.
„Ist dein Mitbewohner gar nicht zuhause?“, fragte ich enttäuscht.
„Doch, aber der schläft noch“, entgegnete Nele.
Da keimte wieder Hoffnung in mir auf.
„Magst du Kaffee?“, fragte mich meine Tochter. „Ich habe aber nur koffeinfreien zuhause.“
„Ja, gerne“, sagte ich, „trinken wir zuerst einen guten Kaffee. Wir können später ja noch eine Pizza bestellen oder vom Asiaten Sushi bringen lassen.“ Ich musste meinen Besuch an diesem Tag ja ziemlich lange ausdehnen.
„Hast du denn heute so viel Zeit?“, fragte Nele erstaunt.
Ich ignorierte diese Frage.
„Wann ist denn eigentlich der Geburtstermin?“, erkundigte ich mich stattdessen, weil ich es wirklich endlich wissen wollte, wann ich Großmutter wurde, und während Nele ihre altmodische Kaffeemaschine bediente, stapelte ich meinen Einkauf auf den großen Küchentisch: zwei Kilo Bananen, vier Kilo Äpfel, zwei Kilo Orangen, einen Kilo Birnen, einen Sack voll Zitronen, einen halben Kilo Kiwi und einen halben Kilo spanischer Erdbeeren.
„Am neunundzwanzigsten Oktober“, sagte Nele ohne sich umzudrehen, „ich bin jetzt in der zehnten Woche.“
Als sie mit dem Hantieren an der Kaffeemaschine endlich fertig war, drehte sie sich um, erblickte das Obstgebirge auf ihrem Küchentisch, rollte die Augen und strich sich eine Lockensträhne aus dem Gesicht.
„Ach Mamilein, ich hab doch gesagt, du sollst es mit dem Obst nicht übertreiben“, sagte sie liebe- und vorwurfsvoll zugleich, „das kann ich unmöglich alles aufessen, selbst wenn ich den ganzen Tag nichts anderes als Obst in mich hinein stopfe.“
Und dann sortierte sie aus: Sie behielt einen Kilo Bananen, zwei Kilo Äpfel, die Birnen und die Erdbeeren. Von denen naschte sie sogar. Meinen Einwand, sie müsse doch jetzt viele Vitamine zu sich nehmen, ignorierte sie.
„Zitrusfrüchte und Kiwi mag ich nicht, das solltest du wissen“, sagte sie, „den Rest kannst du wieder mitnehmen und selber essen, oder du bringst das Obst meinen Schwestern oder spendest es den Armen. Und jetzt setz dich endlich hin, jetzt trinken wir gemütlich unseren Kaffee. Ich muss dir nämlich etwas erzählen.“
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