Ich wollte schon beleidigt sein, weil sie meine Vitaminnahrung verschmähte, aber durch den Umstand, dass sie mir etwas erzählen wollte, gewann meine Neugier wieder die Oberhand. Also nahm ich Platz und drängte:
„Was denn? Erzähl schon!“
Nele wusste, dass ich diese Eigenschaft, wenn sie einmal geweckt war, kaum im Zaum halten konnte. Deshalb agierte sie jetzt besonders langsam. Sie stellte zuerst die Kaffeekanne auf den Tisch, holte jede Tasse, jede Untertasse und jeden Löffel einzeln, tat dann so, als müsste sie die Milch im Kühlschrank erst suchen und setzte sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich auch hin.
„Also, du weißt ja, dass Papa die Siharsch heiratet“, fing sie an.
Ich nickte.
„Aber weißt du auch, warum er es mit der Ehe plötzlich so eilig hat?“
„Keine Ahnung. Ist sie womöglich doch schwanger?“, fragte ich. „Zu mir hat Heinz gesagt, sie sei nicht schwanger.“
„Ist sie auch nicht“, bestätigte Nele. „Aber sie erpresst ihn!“
„Wie? Wie erpresst sie ihn? Hat er eine Bank überfallen und sie droht ihm mit der Polizei?“, fragte ich blöde. Natürlich wusste ich, dass Heinz keine Bank überfallen hatte, aber mir fiel definitiv keine Möglichkeit ein, wie man einen Mann zu einer Eheschließung nötigen konnte, wenn er denn nicht heiraten wollte.
„Sie hat ihm gedroht“, sagte Nele noch immer mit einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme.
„Womit gedroht?“, fragte ich, zunehmend irritiert.
„Sie hat gesagt, wenn sie nicht endlich seine Frau wird, dann verlässt sie nicht nur ihn, sondern sucht sich auch eine andere Stelle.“
„Dann soll er sie doch ziehen lassen“, meinte ich trocken, „oder liebt er sie so abgöttisch?“
„Das habe ich ihm auch geraten“, erklärte Nele, „und er liebt sie nicht abgöttisch. Im Grunde genommen liebt er sie überhaupt nicht. Auch das hat er mir erzählt. Aber er hat Angst vor dem Alleinsein im Alter. Und sonst hat er ja niemanden. Überleg mal, Mama, er ist fast sechzig. So schnell findet man in dem Alter keinen neuen Partner.“
Jetzt rollte ich die Augen. Mein seit jeher polygam veranlagter Exmann hatte niemanden! Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
„Ich bin auch schon sechsundfünfzig und habe niemanden“, sagte ich fast trotzig.
„Aber Mama, bei dir ist das doch ganz etwas anderes. Du hast dein Leben im Griff. Und außerdem bekommst du ja bald eine neue Aufgabe dazu: Du wirst Oma! Schon vergessen?“, meinte Nele.
Da war es wieder, das Stichwort: Ich wurde Oma! Und ich wollte heute den Kindsvater stellen. Ungeduldig schielte ich auf die Küchenuhr. Schlief denn der Kerl noch immer? Und plötzlich wurde mir heiß und kalt und wieder heiß. Ich brauchte unbedingt ein Dessous von Nele. Wie hatte ich bloß darauf vergessen können?!
Also kramte ich in meiner riesigen Handtasche und zog die Pralinenschachtel hervor.
„Nele, Schatz“, sagte ich, „ich habe dir auch eine Überraschung mitgebracht und würde gerne Osterhase spielen und sie in deinem Zimmer verstecken. Darf ich?“
„Du liebst es tatsächlich, noch immer so zu tun, als wären wir kleine Kinder“, meinte Nele schmunzelnd, „aber mach nur, ich hänge inzwischen die Wäsche auf den Balkon.“
Kaum hatte sie das gesagt, war sie auch schon im Badezimmer verschwunden, um die Waschmaschine auszuräumen. Das war mein Glück, denn beinahe hätte ich vergessen, meine Handtasche in ihr Zimmer mitzunehmen. Die brauchte ich aber unbedingt, denn ich musste ja meine Beute darin verstecken. Ich konnte doch nicht mit dem Dessous von Nele in der Hand zu ihr zurück kehren.
Ich schnappte also meine Tasche, schlich in Neles Reich, deponierte mein Geschenk einfallsreich, wie ich nun einmal bin, unter Neles Kopfkissen und machte mich dann auf die Suche nach dem Objekt meiner Begierde. Erst als ich die dritte Lade ihres Schrankes geöffnet hatte, wurde ich fündig. Doch was ich da sah, ließ mich erschaudern. Die meisten Dessous waren prüde Höschen aus weißer Baumwolle. Meine Tochter hatte doch wirklich keinen Geschmack!
Ich wühlte alles durch und befürchtete schon, unverrichteter Dinge nachhause gehen und einen neuen Plan aushecken zu müssen. Doch ganz unten fand ich dann zwei einigermaßen reizvoll aussehende Slips: Einer war schwarz und hatte einen Spitzeneinsatz, der andere war getigert. Ich wählte den getigerten. Ein wilder Tiger schien mir für eine heiße Liebesnacht genau das Richtige zu sein.
Hastig stopfte ich das Ding in meine Handtasche. Jetzt brauchte nur noch Jan aus seinem Koma zu erwachen und sein Zimmer zu verlassen, dann konnte ich mein Vorhaben endlich in die Tat umsetzen.
Zufrieden mit dem Erfolg meiner Mission kehrte ich zurück zu Nele in die Küche. Sie hantierte noch immer auf ihrem Balkon mit der Wäsche herum. Ich stellte mich zu ihr, blickte auf den Innenhof und hoffte inständig, dass mein Plan klappen würde.
„Sag mal, Mama“, riss mich meine Tochter wieder aus meinen Gedanken, „willst du es nicht noch einmal mit Papa versuchen? Ich glaube, er hängt immer noch an dir. Er hat ein paar Mal solche Andeutungen gemacht. Meinst du nicht, dass jeder eine zweite Chance verdient?“
„Dein Vater hatte mindestens hundert Chancen“, konterte ich, „und ich will ihm definitiv keine weitere mehr geben!“
„Geh, Mama! Er hat mir echt leidgetan, wie er mir die Geschichte von der Erpressung erzählt hat. Er hat irgendwie so hilflos gewirkt.“
„Ja, ich weiß“, sagte ich, „jedes zweite Wort ist „also“ und dann kommt er noch mit seinem Dackelblick. Aber bei mir zieht die Mitleidsmasche nicht mehr.“
„Na, vielleicht könnten wir ja dann wenigstens gemeinsam überlegen, wie wir diese Ehe verhindern könnten“, schlug Nele nun vor. „Er rennt doch in sein vorprogrammiertes Unglück!“
„Vergiss es, Tochter“, sagte ich nüchtern, „man kann keine Ehe verhindern, die geschlossen werden muss . Ich habe wahrlich genug Lebenserfahrung, um das behaupten zu können. Außerdem werde ich mich hüten, mich in diese Angelegenheit einzumischen. Was ich davon halte, habe ich deinem Vater unmissverständlich erklärt. Aber ich mache mich doch nicht zum Affen und unternehme etwas, damit er diesen Blödsinn nicht macht. Er hat sich die Suppe eingebrockt, jetzt soll er sie auch auslöffeln. Oder anders gesagt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Er hat die Affäre mit dieser Tussi angefangen, jetzt soll er halt dazu stehen.“ Mehr Plattitüden fielen mir im Moment nicht ein.
Damit war das Thema für mich abgehakt. Wir tranken unseren inzwischen ausgekühlten Kaffee und Nele erzählte mir ein paar Episoden aus dem Fitnesscenter. Immer wieder schielte ich verstohlen auf die Küchenuhr.
Endlich um zwölf Uhr hörte man eine Tür knarren und ein völlig verschlafener Jan erschien in der Küche. Ich schöpfte wieder Hoffnung, meinen Plan endlich in die Tat umsetzen zu können.
„Morgen“, knurrte er, und als er bemerkte, dass Nele nicht allein war, kniff er seine Augen zusammen, fokussierte mich und sagte dann:
„Ja, guten Morgen, Frau Geiger, ich habe Sie gar nicht gesehen. Wie geht es Ihnen denn?“
„Danke, Jan, ganz gut, und Ihnen?“ erwiderte ich.
„Alles im grünen Bereich“, knurrte er zufrieden, und dann wandte er sich Nele zu und verwickelte sie in ein Gespräch über eine Vernissage, die er am Vorabend besucht hatte und bei der er jemanden kennengelernt hatte, der sich für Neles Bilder interessierte.
Ich sah meine Chance gekommen, schnappte meine Tasche, nuschelte erklärend: „Ich muss mal“, und draußen war ich.
Natürlich ging ich nicht aufs Klo, sondern schnurstracks in Jans Gemach. Es herrschte ein regelrechtes Tohuwabohu in diesem Raum, von Ordnung schien der junge Mann also nicht viel zu halten. Aber das war ein ausgesprochener Glücksfall für mich und meinen Plan: So würde ihm das Corpus Delicti nicht gleich auffallen, wenn er wieder hereinkommen würde.
Читать дальше