„Tut mir leid, Anita, aber ich muss heute unbedingt noch ein paar Eier ausblasen und bemalen. Sonja hat beschlossen, auch einen Osterstrauß vor ihrer Eingangstüre zu platzieren.“
Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben eine solche Tätigkeit durchgeführt, weil ich sie einfach unappetitlich fand, und malen konnte ich schon überhaupt nicht. Dafür fehlte mir schlichtweg das Talent. Trotzdem war ich froh, mit dieser kleinen Notlüge meinen Nachmittag gerettet zu haben, denn ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie dieser bei meiner Nachbarin verlaufen wäre:
Sie wäre auf die Neuigkeiten, die mich beschäftigten, überhaupt nicht eingegangen, womöglich wäre es mir nicht einmal gelungen, sie loszuwerden, sondern hätte, ohne auch nur einmal tief Luft zu holen, einen Redeschwall über das Großmutterdasein über mich ergossen und die Vorzüge ihrer Enkelkinder in den höchsten Tönen gepriesen, sodass ich spätestens nach drei Minuten abgeschaltet hätte.
Schnell huschte ich ins Treppenhaus, um nicht doch noch im letzten Moment von Anita verhaftet werden zu können, und nahm den Lift, der mich zu meiner Wohnung in den dritten Stock transportierte.
Nach einer ausgiebigen Dusche wollte ich ein Buch lesen, konnte mich aber angesichts der vielen Neuigkeiten, die ich heute erfahren hatte, nicht konzentrieren. Auch der Versuch, einen Film im Fernsehen anzuschauen, scheiterte kläglich.
Also putzte ich das Badezimmer und die Toilette, beseitigte das Chaos in der Küche, im Wohnzimmer und auf meinem vereinsamten Doppelbett und schlichtete sogar die in der Diele herumliegenden Schuhe in den Schrank. Dann räumte ich noch meinen Kleiderschrank um, indem ich die wirklich warmen Wintersachen höher und die sommerlichen Shirts erreichbarer platzierte, und buk einen Kuchen, den ich am nächsten Vormittag meinen Eltern vorbeibringen wollte. Dabei konnte ich ihnen gleich die Nachricht, dass sie Urgroßeltern werden würden, präsentieren – wenn sie nicht ohnehin schon zu dem Kreis der Eingeweihten gehörten.
Als es endlich Abend wurde, machte ich mir eine Flasche Rotwein auf, holte die Fotoalben mit den Kinderaufnahmen meiner Töchter hervor, blätterte in einer sehr sentimentalen Stimmung darin und gab mich den Erinnerungen an die Zeit, als meine Mädchen noch klein gewesen waren, hin. Dazu hörte ich mir, um nicht wieder sentimentaler Weise heulen zu müssen, mindestens drei Mal die „13 schmutzigen Lieder“ von Georg Danzer an, und dann noch einige Male den >new orleans alptraum stomp<, das erste Lied auf dieser CD.
Nach dem ersten Glas Wein löste sich endlich die Spannung, die sich im Laufe des Tages in mir aufgebaut hatte, und ich sah alles, was ich an diesem Tag an unerfreulichen Neuigkeiten erfahren hatte, ein wenig lockerer.
Nach dem zweiten Glas Wein überlegte ich mir, ob ich noch einmal meine Wohnung verlassen und mir – entgegen meinem strikten Vorsatz, nicht mehr zu rauchen – eine Packung Zigaretten besorgen sollte. Das unterließ ich dann aber einerseits aus Bequemlichkeit, anderseits aus Sorge um meine Gesundheit.
Stattdessen schenkte ich mir ein drittes Glas Wein ein und nahm mir fest vor, noch einmal ein ernstes Wörtchen mit Cornelia zu sprechen: Sie musste den Namen des Kindsvaters einfach bekannt geben, egal ob es Jan oder der lüsterne Gärtner oder ein mir völlig Unbekannter war. Wenn nicht, würde ich persönlich dieses Geheimnis lüften, das schwor ich mir.
Nach dem vierten Glas Wein und nachdem ich nun endlich alle alten Fotoalben durchgeblättert hatte, stellte ich mir vor, wie ich stolz meinen Freundinnen erzählen würde, dass ich nun auch Großmutter wurde, und wie ich mit meiner im Kinderwagen schlafenden Enkeltochter durch den Park spazieren würde, wie ich ihr das Fläschchen geben würde, wie ich sie wickeln würde, wie ich ihr viele rosarote und geblümte Kleidchen mit dazu passenden rosaroten und geblümten Hütchen kaufen würde, wie ich mit ihr Puppen spielen und Kinderlieder singen würde und wie ich ihr Geschichten erzählen und Märchen vorlesen würde und wie sie ihre zierlichen Ärmchen um mich schlingen und „Ich hab dich sooo lieb, Omilein“ sagen würde.
Nach dem fünften Glas Wein war es halb elf Uhr, ich war müde und ziemlich beschwipst – so viel Alkohol trank ich nämlich normalerweise nicht – und beschloss ins Bett zu gehen. Ich schlief in dieser Nacht aber äußerst unruhig und hatte wirre Träume. An zwei davon konnte ich mich sogar noch am nächsten Morgen erinnern:
Im ersten Traum lag Jan, der arbeitslose Langzeitstudent, auf einem OP-Tisch. Sein Bauch war so rund, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Ich selbst stand daneben und hatte ein riesengroßes Messer in der Hand. Und hinter mir stand Nele und beschwor mich: „Du musst die Babys rausschneiden, Mama! Mach schon! Du musst jetzt endlich die Babys rausschneiden!“ Dann kam Heinz, gefolgt von der Siharsch, in den Raum und sagte: „Tanja und ich haben beschlossen, dass ich die Babys rausschneide. Denn der Onkel Doktor kann das professioneller erledigen als eine Physiotherapeutin“, und scheuchte Nele und mich aus dem Raum, während Jan jämmerlich vor sich hin wimmerte.
Im zweiten Traum hatte ich offensichtlich den >new orleans alptraum stomp< von Georg Danzer verarbeitet, denn in ihm waren Heinz und die Siharsch nach New Orleans gereist, um zu heiraten. Sie heirateten aber nicht – wie geplant – einander. Sondern Heinz ehelichte eine unvorstellbar dicke, amerikanische Prostituierte, die nur sehr spärlich bekleidet war und auf den deutschen Namen Annette hörte. Die Siharsch vermählte sich mit einem glatzköpfigen Ganzkörpertätowierten, der Stanscheißer Koarl hieß. Die Trauungen vollzog ein mit einer grünen Gärtnerschürze bekleideter Österreicher, der einen Rechen in der linken und einen Spaten in der rechten Hand hielt, äußerst lüstern dreinschaute und einen breiten steirischen Dialekt sprach.
Kapitel 3: Monday Morning
Am Montag regnete es und es war empfindlich kalt geworden. Für höher gelegene Regionen war sogar Schnee prognostiziert worden. Ich konnte also nicht wie geplant mit dem Rad zur Arbeit fahren, sondern musste den Smart nehmen.
Trotzdem war ich einigermaßen gut gelaunt, denn der Besuch bei meinen Eltern, der als Kurzbesuch geplant gewesen und dann doch ein Ganztagesbesuch geworden war, war sehr erfreulich und gemütlich gewesen.
Die beiden alten Herrschaften, die wie immer blendend gelaunt waren und sich glücklicherweise bester Gesundheit erfreuten, hatten sich über den Kuchen gefreut, den ich für sie gebacken hatte, und mich gleich liebevoll, aber keinen Widerspruch duldend, genötigt, mit ihnen das Mittagessen einzunehmen. Es hatte eine köstliche Kürbiscremesuppe, Rindsrouladen mit Kartoffelpüree und grünem Salat und ein Tiramisu als Dessert gegeben – ein typisch österreichisches Sonntagsessen eben.
Den sonnigen Nachmittag hatten wir genutzt, um einen längeren Spaziergang zu unternehmen und danach bei Kaffee und Kuchen zuerst über alte Zeiten und dann natürlich über brandaktuelle Neuigkeiten zu plaudern.
Über den Umstand, dass Nele schwanger war, waren sie bereits informiert. Offensichtlich war ich wirklich die Allerletzte, die davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass meine Tochter ein Baby erwartete.
Aber meiner Mutter war es gelungen, alle meine Bedenken bezüglich Neles Kompetenz, die Mutterrolle zu übernehmen, zu zerstreuen, indem sie gemeint hatte, früher sei es den Menschen viel schlechter ergangen und trotzdem hätten sie es geschafft, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Und aus den meisten seien einigermaßen anständige Menschen geworden.
„Vielleicht“, hatte sie gesagt, „wächst sie ja an dieser Aufgabe, wird reifer und geht dann auch ihr eigenes Leben verantwortungsbewusster an.“
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