Es schien, als sei bei der Rückreise alles planmässig verlaufen. Anders hatte sie es eigentlich nicht erwartet. Sie setzte sich an den Küchentisch, der wie der Rest der Küche in hellem Holz gearbeitet war. Die Küche bot viel Platz zum Arbeiten und Essen. Jessica sass gerne in dem hellen Raum und las die Zeitung, doch im Moment war ihr nicht nachlesen. Sie ging nochmals durch was geschehen sein könnte.
Die Kinder rissen sie aus ihren Gedanken. Sie gestattete ihnen fernzusehen, damit sie weiter nachdenken konnte.
Was konnte sie jetzt noch unternehmen? Sie kam zur Einsicht, dass sie im Moment nichts weitermachen konnte, ausser abzuwarten. Die Zeit reichte nicht aus, um mit den Kindern nach Sumiswald zu fahren und nachzuschauen, ob ihr Vater zu Hause angekommen war. Also entschloss sie erst einmal duschen zu gehen und am Nachmittag zum Hause ihres Vaters zu fahren, wenn ihr Ex-Ehemann die Kinder abgeholt hatte.
Nach der Dusche fühlte sich Jessica fit. Sie stand nackt im Badezimmer und genoss die Kühle, die ihr nach der warmen Dusche wie ein sanftes Streicheln über die Haut kroch. Mit einem Tuch wischte sie den Dampf vom grossen Spiegel über dem Waschbecken, der von drei Spots beleuchtet wurde. Sie betrachtete ihr Gesicht. Die ersten Falten zeichneten sich um die Augen ab, aber das störte sie nicht. Sie fand, dass sie trotz ihrer Sechsunddreissig Jahre noch immer attraktiv aussah. Ihr schwarzes Haar glänzte noch immer ohne graue Strähnen darin und ihre blauen Augen strahlten Lebensfreude aus - trotz der kleinen Falten. Die Haut spannte sich noch immer straff über ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen.
Sie hatte gerade den Föhn eingeschaltet, als es an der Haustür klingelte. Die Kinder rannten kreischend zur Tür. Alle wollten die Tür öffnen und taten dies auch lautstark kund. Jessica warf sich ihren Morgenmantel um ihren schlanken Körper, kämmte sich die Haare in den Nacken und band sie mit einem Gummiband zusammen.
„Opa! Opa! “ hörte sie die Kinder im Flur rufen.
Jessica war verwirrt und erleichtert zugleich. Warum besuchte sie ihr Vater so früh am Morgen und ohne sie vorher anzurufen? Aber glücklicherweise schien bei ihm alles in Ordnung zu sein. Sie beeilte sich und hastete in den langen Flur.
„Es ist Opa“, rief ihr Marco entgegen und machte sich wieder auf den Weg zum Fernseher. Die beiden Mädchen folgten ihm und bestätigten ihr nochmals, dass es Opa sei.
„Hallo Papi, was machst denn du hier? Und wie siehst du denn aus?“, fragte Jessica, die ihren Vater verwundert musterte.
Er sah schmutzig aus. Die kurzen, grauen Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab, Bartstoppeln sprossen und unter den braunen, listigen Augen hatten sich Ringe gebildet. Über der schwarzen Jeans spannte sich ein graues Sweatshirt über den immer grösser werdenden Bauch. Ein dunkler Mantel hing ihm offen über die Schultern und die Füsse streckten in den roten Nike–Turnschuhen. Das entsprach nicht seinem üblichen Erscheinungsbild. So hatte sie ihren Vater noch niemals ausserhalb seiner eigenen vier Wände gesehen. Er legte stets grossen Wert auf ein gepflegtes Auftreten. Etwas, das sie von ihm übernommen hatte.
„Hallo mein Schatz, entschuldige bitte mein Aussehen, und dass ich unangemeldet hier auftauche, aber ich wusste sonst nicht wohin.“ Sie umarmten sich in der Tür.
„Das macht doch nichts, komm rein. Du siehst aus, als ob du einen Kaffee vertragen könntest.“
„Ja danke, ein starker Kaffee wird mir jetzt guttun.“ Oberhofer hängte seinen langen, braunen Lodenmantel an die eiserne Garderobe und folgte Jessica in die Küche. Die Maschine mahlte bereits die Bohnen, als er die Küche betrat. Er setzte sich an den Küchentisch.
„Danke“, sagte er, als Jessica ihm den Kaffee servierte. Er trank in langsamen Schlucken. Die Wärme durchfloss seinen Körper. Jessica setzte sich ebenfalls mit einer Tasse zu ihm an den Tisch.
„Was ist denn bloss geschehen?“, fragte sie, nachdem sie ebenfalls einen Schluck getrunken hatte. „Ich konnte dich gestern Abend und auch heute Morgen nicht zu Hause erreichen. Ich habe mir bereits Sorgen gemacht.“
„Es tut mir leid, Kleines“, antwortete Oberhofer und umklammerte die Tasse, um seine Hände zu wärmen. „Seit ich gestern heimgekommen bin, hat sich eine Menge zugetragen. Ich habe ganz vergessen dich anzurufen. Es tut mir leid“, wiederholte er.
„Warst du denn gestern gar nicht zu Hause? Ich habe mehrmals angerufen.“
„Kaum hatte ich die Koffer abgestellt, musste ich wieder los, um mich mit jemandem zu treffen. Dann war ich wohl zu sehr in das vertieft, was ich geschickt bekommen habe.“
„Macht ja nichts. Die Hauptsache ist, dass es dir gut geht“, sagte sie und legte ihm die Hand beruhigend auf den Arm. „Was ist denn so Wichtiges geschehen, dass es dich komplett eingenommen hat?“
Er legte seine warme Hand auf ihre und streichelte sie langsam. „Ich weiss es nicht…“, sagte er schliesslich leise und nach einer längeren Pause.
„Was weisst du nicht?“, fragte Jessica verwundert. „Du weisst nicht, was dich gestern so beschäftigt hat?“
„Ja und nein“, antwortete er und blickte in die Kaffeetasse.
Jessica sagte nichts und wartete ab. Nach einer Weile blickte er auf und schaute sie mit einem fragenden Blick an. „Ich weiss schon, was mich gestern so beschäftigt hat…“, er stockte erneut. „Aber ich weiss nicht, woher es kam und was es ist.“
„Das klingt aber geheimnisvoll…“
„Ist es auch, glaub mir! Ich habe keine Ahnung um was es sich bei der Sache dreht. Aber es ist faszinierend.“ Er stand auf und liess sich noch eine Tasse Kaffee von der Maschine zubereiten.
„Los erzähl schon!“, drängte ihn Jessica, ihr Interesse war geweckt. Sie wusste, dass ihr Vater nicht zu Übertreibungen neigte, eher im Gegenteil.
„Ich weiss nicht, ob ich dich damit hineinziehen soll.“ Er schaute sie liebevoll an und tätschelte ihre Hand, als er sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. „Ich weiss ja selber noch nicht, was es ist und um was es genau geht. Es ist auf jeden Fall sehr mysteriös und scheinbar interessieren sich noch andere dafür. Deshalb bin ich ja hier: Ich musste letzte Nacht aus meinem Haus fliehen. Es…“
„Was?“, unterbrach ihn Jessica besorgt.
„Keine Sorge, es ist mir ja nichts passiert“, beruhigte er sie mit seiner sanften Stimme.
„Aber um was geht es denn?“, fragte Jessica immer noch verblüfft und besorgt.
„Wenn ich das nur wüsste.“ Er trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann langsam fort: „Lass mich von Anfang an erzählen. Kaum zu Hause angekommen, klingelte das Telefon. Eine Männerstimme forderte mich auf ihn in einer Stunde auf einem abgelegenen Parkplatz zu treffen. Er habe ein Packet, dass er mir persönlich übergeben müsse. Auf meine Frage, was es sei, sagte er, er wisse es nicht. Er habe den Auftrag, mir ein Packet persönlich zu übergeben. Du weisst, ich bekomme viele solche Anrufe und die meisten ignoriere ich, weil es sich um irgendwelche geltungssüchtigen Spinner handelt.“ Er blickte von der Tasse auf und schaute Jessica an. Sie nickte und er fuhr fort: „Da er mir nicht sagen konnte oder wollte, was in dem Packet sei, wurde ich neugierig und entschloss mich hinzugehen. Denn normalerweise prahlen die Leute schon am Telefon was sie Grossartiges für mich hätten. Ich hatte nicht einmal genug Zeit die Post durchzusehen, wenn ich rechtzeitig am Parkplatz sein wollte. Also fuhr ich sofort los. Auf dem Parkplatz erhielt ich eine Holzkiste ohne irgendwelche weiteren Informationen. Nur die Kiste. Keine Angaben woher sie stammt oder wer sie mir geschickt hat.“
„Wer hat sie dir übergeben? Kanntest du ihn?“
„Nein, ich konnte nicht einmal sein Gesicht erkennen. Er sprach mit einem italienischen Akzent und achtete sehr darauf, dass ich ihn nicht erkennen konnte.“
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