Danach würde er das Auto in seine Werkstatt bringen, um kein weiteres Aufsehen zu erregen Ins Haus konnte er jedenfalls nicht zurück, so sehr er sich auch wünschte, die Kiste zu holen. Er musste sich im Moment auf das Versteck verlassen, momentan gab es keine andere Möglichkeit. Er war zum Warten verdammt.
Während er im Café sass, liess er sich die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Viel Merkwürdiges war diese Nacht passiert, einiges, was er nie für möglich gehalten hätte. Es gab hingegen noch ein Indiz, das dagegen sprach zur Polizei zu gehen. Denn wenn er richtig beobachtet hatte, dann konnte auch die Polizei, zumindest gegen einen der Einbrecher, nichts unternehmen.
War es tatsächlich wahr, was er auf dem Nummernschild des Chryslers gesehen hatte?
Jessica rannte die schmale, gewundene Strasse hinunter. Der Verfolger kam ihr immer näher. Sie suchte nach einer Möglichkeit sich zu verstecken - aber weit und breit konnte sie nichts finden. Nur ein weites, offenes Feld, durch das sich die Schotterstrasse wand und auf der sie ihrem Verfolger zu entkommen versuchte. Langsam stieg feiner Nebel aus den Feldern, am Himmel schien keine Sonne. Weiter vorne erschien ein grauer, flacher Platz: weit, ohne Gebäude. Auf dem Platz standen reglose, blasse Menschen. Sie schrie um Hilfe. Niemand reagierte. Jessica blickte zurück. Der Verfolger befand sich nur noch wenige Meter hinter ihr. Bald würde er sie einholen.
Sie hatte den Platz erreicht. Sie schrie wieder verzweifelt um Hilfe, aber niemand beachtete sie. Die Leute standen teilnahmslos da und unterhielten sich. Niemand nahm Notiz von ihr.
Der Verfolger rannte noch eine Armlänge entfernt hinter ihr her. Jeden Moment würde er sie packen. Sie hörte Stimmen. Jemand rief ihren Namen. Verzweifelt schaute sie sich um.
Nichts.
Sie hastete weiter zwischen den Leuten umher. Da vorne spielten Kinder. Nein, sie weinten. Sie riefen ihren Namen. Als sie völlig ausser Atem die Kinder erreichte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
Jessica schreckte hoch. Sie brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, dass sie bei sich zu Hause in ihrem eigenen Bett lag. Durch die geschlossenen Jalousien zwängte sich sanftes Morgenlicht ins Zimmer. Die Hand auf ihrer Schulter gehörte Simone, die weinend neben dem grossen Doppelbett stand und ihren Namen rief.
Jessica setzte sich auf und zog Simone zu sich heran. „Was ist denn los?“, fragte sie ihre jüngste Tochter und schloss sie in die Arme. Nach dem Traum taten ihr die Nähe und Wärme gut.
„Marco und Julia lassen mich nicht mitspielen“, antwortete Simone schluchzend und strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn. Tränen rannen aus den blauen Augen und kullerten über die runden Backen. „Sie sind in Marcos Zimmer und lassen mich nicht hinein.“ Schluchzend schmiegte sie sich fester an ihre Mutter.
„Willst du denn nicht lieber alleine etwas spielen?“
„Nein! Ich will mit den anderen spielen!“ kam die trotzige Antwort. Das Weinen hatte aufgehört.
„Aber, wenn du alleine etwas spielst, dann kannst du machen, was du willst und musst dir nicht von den anderen sagen lassen, was du zu tun hast. Das ist doch viel schöner.“
„Ich will aber nicht alleine spielen!“
„Aber, wenn Julia und Marco alleine spielen wollen, kann ich sie doch nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Sie…“
„Doch das kannst du! Sag ihnen, dass sie mich mitspielen lassen sollen!“
„Aber dann lassen sie dich nur mitspielen, weil ich es ihnen befohlen habe und dann sind alle unzufrieden.“
„Das ist mir egal! Ich will nicht alleine spielen!“ Simone begann wieder zu schluchzen. Das war ihre Masche. Wenn sie etwas erreichen wollte, begann sie immer zu weinen. Da es beim Vater wirkte, versuchte sie es auch bei ihrer Mutter.
„Simone, es nützt nichts, wenn du wieder zu weinen beginnst. Wenn du mit den anderen spielen möchtest, dann musst du das alleine mit ihnen ausmachen. Ich werde sie nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Du und Julia, ihr lasst Marco auch nicht immer mitspielen.“
„Du sollst ihnen sagen, dass sie mich mitspielen lassen müssen!“, sagte Simone. Sie zwang sich wieder zu weinen.
„Simone, hör auf zu weinen. Du weisst genau, wo du dich ausweinen kannst. Dies ist kein Grund zum Weinen.“
„Mami, bitte!“, brachte sie unter Tränen hervor.
„Ich habe nein gesagt!“
Simone riss sich los und rannte weinend in ihr Zimmer. Die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss und das Heulen drang nur noch gedämpft zu Jessica hinüber. Bald würde das Weinen in ein Schluchzen übergehen, um danach ganz zu verstummen.
Jessica schaute auf den Wecker. Acht Uhr. Normalerweise konnte sie an einem Samstag nicht solange schlafen, wenn die Kinder bei ihr waren. Sie fühlte sich noch immer müde. Es kam ihr vor, als habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Mehrere Male war sie erwacht und konnte immer nur mit Mühe wieder einschlafen.
Sie streckte sich und die Decke glitt von ihr herunter. Die Kühle im Zimmer liess sie erschaudern. Sie widerstand der Versuchung sich noch einmal in die warme Decke zu kuscheln. Schnell stieg sie aus dem Bett, zog Trainingshosen und ein Pullover über. Auf dem Weg zur Küche horchte sie an Simones Tür. Simone sang leise vor sich hin. Aus Marcos Zimmer hörte sie etwas, was sich anhörte wie ein Ritter- und Prinzessinenspiel.
Als sie in der Küche die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, schlurfte sie ins Wohnzimmer und nahm den schnurlosen Apparat aus der Ladestation. Sie wählte die Nummer ihres Vaters. Während es klingelte, ging sie zurück in die Küche und liess die Kaffeemaschine spülen, leerte das Spülwasser aus und drückte auf den Knopf für den extrastarken Frühstückskaffee. Die Maschine begann lautstark die Bohnen zu mahlen. Am andern Ende der Telefonleitung meldete sich erneut der Anrufbeantworter. Ungläubig hörte Jessica die Bandansage. Sie schaute auf die Küchenuhr. Es war nun viertel nach Acht. Unmöglich, dass ihr Vater so lange schlief. Selbst mit einem Jetlag. Für gewöhnlich stand er immer um Sieben auf. Er hielt es für Verschwendung, wenn man länger schief.
Was war nur los?
Jessica fühlte wie das Unbehagen wieder in ihr aufstieg. Sie nahm die Kaffeetasse von der Maschine und trank langsam. Sie musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Was könnte passiert sein, fragte sie sich. Sie ging alle Möglichkeiten durch, die ihr einfielen. Doch mehr als gestern Abend fielen ihr nicht ein. Obwohl sie davon ausging, dass ihr Vater sie angerufen hätte, wenn er das Flugzeug verpasst hätte, entschloss sie sich bei der Fluggesellschaft anzurufen.
Sie ging mit dem Kaffee ins Büro und startete den Computer. Während dieser hochfuhr und sie sich danach mit dem Internet verband, wählte sie nochmals die Nummer ihres Vaters - wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter. Auf der Webseite der Fluggesellschaft fand sie eine Kontaktnummer. Die Frau am anderen Ende der Leitung wollte ihr allerdings keine Informationen über die Passagiere geben, die auf dem Flug an Bord gewesen waren. Sie erklärte lediglich, dass der Flug von Los Angeles nach Zürich gestern planmässig verlaufen sei. Die Dame von der Fluggesellschaft schaute noch nach, ob auch der Flug von Hawaii nach Los Angeles laut Plan abgelaufen sei. Aber auch dieser Flug war ordnungsgemäss verkehrt. Jessica bedankte sich und legte auf.
Sie suchte die Nummer des Hotels in Hawaii, die ihr Vater ihr vor der Abreise gegeben hatte. Der Zettel hing noch immer am Kühlschrank neben den Zeichnungen ihrer Kinder. Beim wählen der langen Nummer vertippte sie sich zwei Mal, beim dritten Versuch klappte es. Die Rezeption meldete sich und der Mann erklärte ihr, dass Mister Oberhofer am Donnerstagmorgen ausgecheckt habe. Die Frage, ob er ein Taxi zum Flughafen genommen habe, konnte er Jessica nicht beantworten, da er zu dieser Zeit keinen Dienst gehabt habe.
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