Tags darauf, als die akuten Stresssymptome abgeklungen und der Rest der Nacht mit Unterstützung einer zusätzlichen Flasche Rotwein irgendwie überstanden war, hatte ich beschlossen, mich am Riemen zu reißen und der Gefahr, in lähmende Resignation zu verfallen, mental gegenzusteuern. Ausgestattet mit diesem Vorsatz, fühlte ich mich trotz meines immer noch leicht aufgedrehten Zustands in der Lage, halbwegs klare Gedanken zu fassen. Deshalb verzichtete ich jetzt auch auf eine Rückfrage bei der DFG, um auszuschließen, dass es sich bei meinem Ablehnungsbescheid lediglich um die folgenschwere Verwechslung mit einem anderen Antragsteller handelte. Anders als noch letzte Nacht, hielt ich einen solchen Irrtum nun für eher unwahrscheinlich.
Dennoch fragte ich mich verstört, wie es sein konnte, dass die Gutachter zu einem derart vernichtenden Urteil gekommen waren. Aus dem allgemein gehaltenen Schreiben der DFG ging dies nicht hervor, und die Möglichkeit, die zu meinem Antrag erstellten Gutachten einzusehen oder gar gegen die Entscheidung Widerspruch einzulegen, bestand nicht.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in meinem näheren oder weiteren wissenschaftlichen Umfeld jemanden gab, der aus Konkurrenzgründen ein Interesse an der Ablehnung meines Projekts haben könnte. Auch persönliche Feinde, die in der Position waren, mir auf diese Weise zu schaden, hatte ich mir meines Wissens nicht gemacht. – Gut, da gab es die Sache mit der Gattin eines Professors, die auf einem Hochschulfest von ihrem wichtigen Mann, der eben erst Dekan geworden war, vernachlässigt wurde. Sie, eine recht gut aussehende, elegante Mittfünfzigerin mit rotblond gefärbten Haaren, hatte mich nach einem Blickkontakt, dem ich eine Weile standhielt, angesprochen. Ich habe übrigens immer wieder festgestellt, dass ich auf ältere Frauen einen gewissen Eindruck mache. Keine Ahnung, wieso. Ich selbst halte mich, ehrlich gesagt, für höchstens mittelmäßig attraktiv. Ich bin knapp einsachtzig groß und eher schmächtig. Meine schwarzen Locken und die dunklen Augen stammen wohl aus dem Genpool meiner Schweizer Großeltern, deren Vorfahren wiederum aus Italien stammten. Was mich an meinem Aussehen stört, ist meine spitze Nase und vor allem mein unproportional breites Kinn, wodurch mein Kopf richtig eiförmig aussieht. Mit einer entsprechenden Frisur versuche ich, diese Wirkung einigermaßen zu kompensieren.
Mit jüngeren Frauen läuft es nicht so gut. Ich hatte zwar immer wieder Freundinnen, die mich „sehr nett“ fanden und meine angeblich „jungenhafte Art“ mochten. Aus verschiedenen Gründen, die jetzt nicht alle aufgezählt werden müssen, sind diese Beziehungen jedoch immer nach recht kurzer Zeit gescheitert. – Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich oft das Gefühl, von den Frauen nicht richtig ernst genommen zu werden. Sie behaupten zwar, meine Arbeit „interessant“ zu finden, aber wirklich etwas wissen wollen sie davon nicht. Während ich leidenschaftlich von meinen Erkenntnissen erzähle, fangen sie unvermittelt an, andere Sachen nebenher zu machen. Blumen gießen, Wäsche sortieren oder sowas. Nachdem ich dann meine Ausführungen beendet hatte, bedachten sie mich mit einem nicht zu deutenden Blick, tätschelten mich am Arm und sagten so etwas wie: „Mein großer Forscher.“ Sonst nichts. Toll. Als wäre ich ein Kleinkind, das entdeckt hat, dass Mami im Sitzen pinkelt und Papi im Stehen. Was ich dann allerdings früher oder später immer zu hören bekam, war der Vorwurf, dass mir meine Forschung wohl grundsätzlich wichtiger sei als die Beziehung. Selbstkritisch muss ich dazu bemerken, dass sie damit grundsätzlich recht hatten. Es gab nur eine Frau, bei der alles anders war. Ganz anders. Sie hieß Irmtraud. Merken Sie sich schon mal diesen Namen, er wird Ihnen noch öfters begegnen.
Damals, um auf das Fest an der Uni zurückzukommen, endete der Abend mit der Professorengattin in einer enthemmten Knutscherei an der Sektbar, was zumindest einige Kollegen ihres Mannes mit Befremden registriert hatten. Aber das war nun schon bald zwei Jahre her, und außerdem gehörte der betreffende Professor – sein Name braucht jetzt nicht genannt zu werden – zur wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, sodass zwischen ihm und mir auch keinerlei fachliche Verbindung bestand.
Moment mal, hatte mich dann plötzlich der Gedanke durchzuckt – natürlich gab es jemanden, der ein Interesse daran hatte, dass mein Projekt abgeschossen wurde: der Präsident! Der hatte ja schließlich die Genehmigung meiner Dauerstelle an die Bedingung geknüpft, dass mein Projektantrag durchging. Logisch! Dieser Hund hatte nie vorgehabt, sein Angebot wahr zu machen, sondern war von Anfang an davon ausgegangen, dass mein Forschungsantrag abgelehnt wurde. Weil er nämlich selbst dafür gesorgt hatte!
Der Präsident war von Hause aus Naturwissenschaftler und mit Sicherheit auch schon des Öfteren als Gutachter für die DFG tätig gewesen. Folglich kannte er auch die Vertreter des für meinen Antrag zuständigen Fachkollegiums, die maßgeblichen Einfluss auf die Förderentscheidung hatten. Der eine oder andere von ihnen mochte sich durch loyales Verhalten dem Präsidenten gegenüber gewisse Vorteile erhoffen oder war ihm zu Gefälligkeiten verpflichtet, damit dieser zum Beispiel sein Wissen um die Spesenrechnung vom Besuch der estländischen Partneruniversität, auf der die Ausgaben für die Bewirtung bestimmter junger Damen unter „Einladung von Studentenvertretern“ verbucht waren, für sich behielt. Somit war es für den Präsidenten ein leichtes, in einem mit kameradschaftlich-jovialem Unterton geführten Telefongespräch sein Anliegen durch dezente, aber unmissverständliche Andeutungen zielführend zu vermitteln.
Klar, der Präsident hätte meinen Antrag auch direkt ablehnen können, was aber seinem scheinheiligen, nach außen hin gepflegten Image des fürsorgenden Universitätsleiters nicht zuträglich gewesen wäre. Jetzt konnte er so tun, als hätte er redlich gehandelt, und sagen: Ich hab` dem Biener ja eine Chance gegeben. Mehr konnte ich doch nicht machen. Aber wie sich gezeigt hat, kann er nicht als erstklassiger Wissenschaftler gelten. Das muss man leider so deutlich aussprechen. – Dann würde er sich innerlich die Hände reiben und einmal mehr das Gefühl seiner Macht auskosten.
Dieses Schwein. Ich würde schon noch rauskriegen, wer bei meinem DFG-Antrag die Gutachter waren. Schließlich hatte ich ja auch ein paar Kontakte. Jetzt ging es aber erst mal darum, den Versuch zu unternehmen, alles wieder zum Guten zu wenden. Das hieß, erneut an den Präsidenten heranzutreten. Aber diesmal persönlich. Damit er mir in die Augen sehen musste.
Ich konnte davon ausgehen, dass der Präsident mit diesem Schritt rechnete und erwartete, dass ich wie ein Wurm angekrochen kommen und um meine Stelle betteln würde. In der gnädigerweise gewährten Audienz würde er mir dann mit gespielter Geduld seine Sicht der Welt erklären und mich damit zu dem Schluss führen, dass meine Existenz auf derselben überflüssig war: „Sehen Sie, Herr Biener, ich habe durchaus Verständnis für ihre Situation... aber Sie wissen doch auch, worauf es heute ankommt. Auch an der Universität müssen wir uns den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs stellen. Was wir brauchen, ist zukunftsorientierte Spitzenforschung mit klarer Prioritätensetzung im Bereich neuer und nachhaltiger Technologien. Kompetenznetzwerke mit der Wirtschaft zur Erschließung von Leitmärkten. Das schafft Wachstum, Arbeitsplätze und dient der Steigerung unseres Wohlstands. Ich kann nicht erkennen, Herr Biener, wo Sie dazu einen Beitrag leisten. Was Sie unter Forschung verstehen, ist nicht mehr Stand des 21. Jahrhunderts. Mit ihrer Ameisenzählerei kommen Sie nicht länger durch. Diese Zeiten sind vorbei, das hat Ihnen ja jetzt auch die DFG bescheinigt.“
In diesem Tenor würde mich der Präsident abkanzeln und dann mit demonstrativem Blick auf die Uhr wieder vor die Tür setzen, ohne dass ich überhaupt richtig zu Wort gekommen wäre. – Nein, in dieses offene Messer durfte ich nicht laufen. Deshalb musste die Sache völlig anders aufgezogen werden. Entscheidend war, dass ich gar nicht erst versuchen durfte, weiter um die Entfristung meiner derzeitigen Stelle zu kämpfen. Vielmehr musste ich den Präsidenten mit einem völlig neuen Vorschlag überraschen und so die befürchtete Diskussion um meine Qualifikation schon im Keim ersticken. Es galt also, eine Lösung herbeizuführen, die einerseits mir eine Zukunftsperspektive eröffnete und andererseits dem Präsidenten einen Ausweg aus der Situation aufzeigte, den er ohne Gesichtsverlust beschreiten konnte.
Читать дальше