„Hast du eigentlich eine Ahnung, warum er das gemacht hat, mit seiner Beurlaubung?“ Meine Frage sollte beiläufig klingen.
„Also wenn du mich fragst“, sagte er gedämpft und blickte an mir vorbei auf den Flur, als ob Butzmann dort zufällig auftauchen könnte, „hatte das vor allem private Gründe. Er ist ja mit einer Filipina verheiratet, und wahrscheinlich steckt die hinter dem Ganzen. Die hat wohl Heimweh bekommen und ihm Stress gemacht, damit er sich einen Job auf den Philippinen sucht. Weißt ja, wie sowas läuft.“ Ich wusste es zum Glück nicht und sah Bernd skeptisch an.
„Ich kann dir auch seine E-mail geben, wenn`s dich interessiert“, reagierte er auf meinen Blick, „butzmann-at-foodforasia – in einem Wort – Punkt org. Kommt allerdings nur selten eine Antwort. Hat wohl auch kein Internet dort oben. Was willst du denn von ihm?“
„Ach, nicht so wichtig. Bloß was fragen. Also, danke für die Infos. Tschüss dann!“, verabschiedete ich mich mit erhobener Hand.
Gut. Jetzt wusste ich wenigstens, wo Butzmann steckte. Eine Mail würde ich ihm natürlich nicht schicken.
Spontan entschloss ich mich, noch einen Spaziergang durch den Park zu machen. Die Gedanken an Butzmann ließen mich nicht los. Was hatte ihn dazu bewogen, seinen bequemen Arbeitsplatz am ZAL zu verlassen? Ein Krebsleiden oder sowas war wohl eher auszuschließen. Dafür hätte es keinen neuen Job gebraucht.
War er wirklich ausgezogen, um einen selbstlosen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten? Bei Butzmann konnte ich mir das nicht wirklich vorstellen. Und der Typ, der aus seinem langweiligen Dasein ausbrechen will, um nochmal ein neues Leben anzufangen, war er auch nicht. Das passte einfach nicht zu seiner Spießigkeit. Finanzielle Interessen waren ebenfalls auszuschließen, denn als Entwicklungshelfer bei einer nichtstaatlichen Organisation wie Food-for-Asia verdiente er mit Sicherheit einiges weniger als auf seiner Beamtenstelle. Auch daran, dass Butzmanns Frau die treibende Kraft hierfür gewesen sein soll, glaubte ich nicht. Heimweh hin oder her, auch sie würde den Lebensstandard in Deutschland einer Existenz in der philippinischen Einöde allemal vorziehen. Und falls es doch ihr Wunsch gewesen sein sollte, war Butzmann diesem sicherlich nicht aus bedingungsloser Liebe nachgekommen. – Vielleicht waren es ja auch besondere sexuelle Neigungen, die er dort auszuleben suchte? Sie wissen, was ich meine. Wie schon gesagt, ich hatte kein Problem, mir so etwas bei Butzmann vorstellen zu können. Er wäre schließlich nicht der Einzige, den es aus solchen Gründen nach Asien zog.
Aber letztlich spielten Butzmanns Motive gar keine Rolle. Alles in allem gab es jedenfalls keinen Anlass zu der Hoffnung, dass er nicht mehr ans ZAL zurückkehren würde. Weshalb sollte er bereit sein, freiwillig auf seine Sicherheiten zu verzichten? Dann hätte er ja auch gleich kündigen können. Egal was er vorhatte – Butzmann konnte seiner Zukunft gelassen entgegensehen. Es müsste also schon ein Wunder geschehen, damit für mich alles noch eine positive Wendung nahm.
Ich konnte allenfalls noch hoffen, dass Butzmann etwas Schlimmes passieren würde. Auf den Philippinen gab es hierfür ja eine große Vielfalt an Möglichkeiten: tückische Tropenkrankheiten, die gesamte Palette an Naturkatastrophen wie Taifune, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis. Erst kürzlich hatte ich gelesen, dass die Philippinen unter den Ländern mit der größten Gefahr, dort durch Naturgewalten ums Leben zu kommen, auf Rang drei stehen. Deutschland kam erst auf Platz 150. Hinzu kamen dann noch jede Menge weiterer Risiken, die man zum Beispiel bei Benutzung der oft schrottreifen und überladenen Transportmittel zu Lande, zu Wasser und in der Luft einging. Außerdem die unzureichende medizinische Versorgung. Besonders in ländlichen Gegenden konnte im Notfall kaum mit rascher und effektiver Hilfe gerechnet werden. Und schließlich die Sicherheitslage. Kommunistische, islamistische und sonstige Rebellengruppen waren in verschiedenen Teilen der Philippinen aktiv und traten durch Kämpfe mit Regierungstruppen, Anschlägen und Entführungen – gerne auch von Ausländern – in Erscheinung.
Aber trotz allem war natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass Butzmann etwas zustoßen würde, eher gering. Und wenn wirklich mal was passierte, dann traf es natürlich solche, die es nicht verdient hatten. So wie meinen Kollegen Markus von der Uni Göttingen, der in einem Küstenschutzprojekt auf Sumatra gearbeitet hatte. Bei einem kleinen Nickerchen unter einer Palme war er von einer herunterfallenden Kokosnuss erschlagen worden. Schädelbasisbruch. Nichts mehr zu machen. Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, wie man da sagt. Scheiße sowas.
Ich seufzte. Butzmann auf solche Weise loszuwerden, würde ein frommer Wunsch bleiben. Schließlich hatte ich ja selbst lange Zeit auf den Philippinen verbracht, ohne ernsthafte körperliche Schäden davonzutragen. Und außerdem: Unfall oder Krankheit machten nur dann einen Sinn, wenn Butzmann auch wirklich daran starb. Halblebige Sachen wie eine böse Infektion oder eine Verletzung würden nämlich eher dazu führen, dass er früher als vorgesehen wieder in Deutschland auf der Matte stehen und womöglich die Lust an seinem Tropenabenteuer gänzlich verlieren würde. Nicht gut.
An einer kleinen Holzbrücke angekommen, setzte ich einen Fuß auf das Geländer und guckte hinunter auf den vereisten Bach. Die Postkarte mit den Reisterrassen fiel mir wieder ein. Was für ein segensreiches Projekt Butzmann dort wohl leitete? Etwas Bedeutendes konnte es kaum sein, denn Food-for-Asia war nur eine kleine Organisation, die wenig Finanzmittel hatte und hauptsächlich auf Spenden angewiesen war. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Vorhaben zur Förderung von Kleinbauern, um deren Einkommen und die Anbaumethoden zu verbessern. Vermutlich mussten sie, unter seiner Anleitung als selbst ernannter Experte, Komposthäufen anlegen, um organischen Dünger zu gewinnen. Oder Fischteiche buddeln. Irgend sowas.
Und warum hatte er sich dafür ausgerechnet diese Gegend ausgesucht? Auf den Philippinen gab es schließlich genügend schöne Plätzchen mit Strand und Palmen, an denen es sich angenehmer leben ließ. Wenn man schon freiwillig so einen Job machte. Die Cordillera-Region, zu der die nach ihren Bewohnern benannte Provinz Ifugao mit den Reisterrassen gehörte, war nämlich kein so idyllisches Fleckchen Erde. Die Bergstämme hatten zwar ihr traditionelles Brauchtum der Kopfjagd nach wiederholten Ermahnungen seitens christlicher Missionare und der amerikanischen Kolonialmacht bereits Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben, aber friedlich war es dort auch danach nur selten. Als die Philippinen im Zweiten Weltkrieg von japanischen Truppen besetzt und unter verlustreichen Kämpfen von den Amerikanern wieder befreit wurden, war das Gebiet um die Reisterrassen Schauplatz der letzten Schlacht zwischen japanischen und amerikanischen Streitkräften auf philippinischem Boden. Mit Unterstützung einheimischer Guerillaverbände, die diese Gelegenheit ein letztes Mal zum Erwerb der einst so begehrten Schädeltrophäen nutzten, wurden dort die Japaner unter ihrem Befehlshaber General Yamashita zur Kapitulation gezwungen. Bis heute hält sich hartnäckig die Legende, dass die Japaner dort auch Kriegsbeute – Goldschätze vor allem – zurücklassen mussten und irgendwo vergraben hatten.
Seit Anfang der 1970er Jahre zählt die Cordillera zum Operationsgebiet der NPA, der New People’s Army, die bis heute, unbeeindruckt von den weltgeschichtlichen Entwicklungen, den bewaffneten Kampf für die kommunistische Revolution auf den Philippinen führt. In den Bergen tummeln sich außerdem die Cordillera People’s Liberation Army und ihre diversen Splittergruppen, die eine politische Unabhängigkeit der Region anstreben. Deren teils bewaffneter Widerstand richtet sich vor allem gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Gebieten der verschiedenen Bergvölker mit eigener Kultur und Tradition. Aktivitäten wie die Abholzung von Wäldern, der Bau von Staudämmen und das Schürfen nach Bodenschätzen erfolgten meist ohne Rücksicht auf deren Interessen und sorgen bis heute für Konflikte.
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