„Richtig geraten: Eine Insel im Mittelmeer!“ Schedel lachte herablassend. „Und die größte Luftlandeunternehmung aller Zeiten!“
Dr. Reinders nickte. Neuzeitliche Militäraktionen bedeuteten ihm nichts. Schon die Römer, ungebildete, zutiefst bäuerliche Emporkömmlinge, fanden kaum mehr sein Interesse. Hätte er nicht unentwegt fürchten müssen, irgendwann selbst darin verwickelt zu werden, und wäre die Lebensqualität in Athen nicht davon abhängig gewesen, er hätte sich kaum um das aktuelle Kriegsgeschehen bekümmert. So aber hoffte er, dass möglichst bald alles vorüber war, damit er sich wieder ohne Sorgen und vor allem ausreichend und ansprechend ernährt ganz der steinernen Hinterlassenschaft der alten Griechen widmen konnte.
„Ein Triumph ohnegleichen! Wenn auch mit dem einen oder anderen Wermutstropfen!“
„Die Verluste sollen recht hoch gewesen sein.“ Dr. Reinders beobachtete voll Vorfreude, wie die Lammkeule vor ihm abgestellt wurde.
Schedel, der von seinen frittierten Auberginenscheiben naschte, machte mit der anderen Hand eine wegwerfende Bewegung. „Das waren alles Märtyrer. Jeder einzelne von ihnen hat sein Leben mit Begeisterung für Führer und Vaterland hingegeben. Der Tod spielt keine Rolle für sie. Sie wissen: Sterben sie, hebt ein anderer ihr Schwert auf und kämpft an ihrer Stelle unser aller Kampf weiter.“
„Dann ist ja gut!“ Dr. Reinders, dessen Speichelfluss bereits deutlich angeregt wurde, war fest entschlossen, sich sein Lamm durch nichts und niemanden verdrießen zu lassen. Ganz bestimmt nicht von einem größenwahnsinnigen Vegetarier!
„Nicht ganz! Die Art und Weise, wie einige dieser jungen Männer gestorben sind, ist ein Skandal. Sie wurden noch in den Geschirren ihrer Fallschirme hängend ermordet. Mit Mistgabeln und Küchenmessern abgestochen! Von Zivilisten! Von Frauen, Kindern und Greisen! Ihre Leichen wurden geschändet! Und daraus ist mit Unterstützung der perfiden Engländer eine richtige Partisanenbewegung geworden, die uns Schwierigkeiten macht und Truppen bindet, die wir lieber anderswo einsetzen würden.“
Dr. Reinders säbelte einen ersten fetttriefenden Fetzen von der vor ihm stehenden Haxe, schob ihn sich mit zitternder Hand in den Mund, schloss die Augen und begann, mit wonnigem Gesichtsausdruck zu kauen.
„Und das überrascht Sie?“ fragte er, als er endlich den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte. Er verstand nicht einmal ansatzweise, worauf Schedel hinaus wollte, machte sich aber deshalb keine Sorgen. Er würde es bald erfahren, egal, ob es ihn interessierte oder nicht. In der Zwischenzeit würde er sich ganz in den Genuss dieses Lamms versenken, der ihm tiefer und leidenschaftlicher vorkam als alles, was Wagner oder Rossini zu bieten hatten. Nicht einmal die im Hintergrund unermüdlich trällernden Soldaten konnten ihn darin noch beirren.
Der bisher so beharrlich redende Schedel geriet ins Stocken.
„Man war davon ausgegangen, dass die deutschen Truppen als Befreier vom britischen Joch gefeiert und von der lokalen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen werden würden. Dass dem nicht so ist, das ist … Im Zusammenhang mit den Griechen drängt sich der Begriff des Tragischen förmlich auf. Schließlich liegt hier ein Fall von Verblendung vor; und die Betroffenen handeln ganz offensichtlich wider ihre eigenen Interessen und wider die Interessen ihres Volkes. Sie erkennen die eigenen Brüder nicht und töten sie ihm Wahn.“
„Was für Griechen nicht ungewöhnlich ist!“ Dr. Reinders ließ es sich weiter schmecken. Seine Lammkeule hatte teutonische Ausmaße. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte die Okkupation Gutes bewirkt. „Hier kämpft doch seit Generationen jeder gegen jeden und eine Sippe gegen die nächste.“
„Das mag sein.“ Schedel verzog angesichts dieses Einwands, der nicht in sein Argumentationsschema passte, säuerlich das Gesicht. „Aber gelegentlich halten sie doch zusammen!“
„Stimmt! Gegen die Perser und Türken!“
Wieder verzog Schedel unwillig das Gesicht.
„Gegen die Italiener auch! Und eben gegen uns! Sogar auf Kreta, das von den Briten besetzt war!“ Es schmerzte Schedel sichtlich, dies zuzugeben. „Und das, obwohl wir mit den Griechen verwandt sind!“
„Sie halten die Griechen für Germanen?“ Dr. Reinders blickte erstaunt auf.
„Bedeutende Rassenforscher wie Hans Günther sind der Ansicht, dass zumindest die hellenische Oberschicht von Einwanderern aus dem Norden abstammte. Vor allem Sparta und Mykene, aber natürlich auch Athen gelten längst als arische Gründungen. Diese gemeinsame arische Wurzel würde nicht zuletzt die besondere Affinität erklären, die wir Deutsche seit langem für die antike griechische Kultur empfinden.“
„Es gibt nur wenige materielle Belege für diese Thesen.“ Dr. Reinders wog skeptisch den Kopf. „Und es ist doch sehr fraglich, ob man eine stammesgeschichtlich begründete Veranlagung braucht, um für die Schönheit antiker Kunst empfänglich zu sein.“
„Es gibt geheime Sympathien, da bin ich mir sicher. Kein Volk versteht die Griechen wie wir, kein Volk hat sich um das antike Erbe der Griechen so verdient gemacht wie wir. Schon allein deshalb sollten die Griechen und vor allem die Kreter in uns und nicht im imperialistischen Albion, diesem neuzeitlichen Nachfolger von Venezianern und Türken, ihre natürlichen Verbündeten sehen.“
„Allein, sie tun, was sie wollen!“ Dr. Reinders schmunzelte. Dass solch absurdes, für Außenstehende und vor allem für einen sturen, methodisch denkenden Deutschen unerklärliches Verhalten für Griechen durchaus typisch war, behielt er lieber für sich. Er wollte die Dinge, die Schedel mit großer Geste vereinfachte, nicht wieder komplizieren.
„Das stimmt; und sie schaden uns und auch sich selbst damit.“ Schedel seufzte und schüttelte traurig den Kopf. „Da gilt es noch Einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir müssten den Griechen zum Beispiel unsere gemeinsame Abstammung durch handfeste Belege vor Augen führen, wie es Ihr verehrter Kollege Dr. Müller bereits getan hat.“
„Ich verstehe nicht …“
„Na in Mykene! Er hat dort doch sogar mit Hakenkreuzen verzierte Kultgegenstände ausgegraben.“
„Es ist sehr zweifelhaft …“
„Zweifel gibt es immer, und Zweifel sind ein Zeichen der Schwäche. Ein Symptom geradezu!“ Schedel wischte den Einwand beiseite, noch ehe er vorgebracht worden war, und griff zum Wein, wie um sich gegen Zweifel zu immunisieren. „Es heißt, dass die Minoer, also die Vorfahren der heutigen Kreter, mit Mykene in engem Kontakt standen. Wenn es uns gelänge zu beweisen, dass die minoische und die mykenische Kultur verwandt und damit beide arischen Ursprungs sind, wäre das Arsenal, das uns zu Bekämpfung des überraschend starken kretischen Widerstands zur Verfügung steht, um ein gewichtiges Argument reicher. Wir könnten unseren verblendeten Brüdern die Hand zu endgültigen Versöhnung hinstrecken und würden den Partisanen die Rekrutierung von Kämpfern erschweren.“
„Man könnte auf Kreta graben,“ schlug Dr. Reinders vorsichtig vor.
„Bravo!“, jubelte Schedel so laut, dass die Italiener erfreut zu ihm hinüber blickten. Einer der ihren hatte soeben „La donna è mobile“ zum Besten gegeben. „Wir bräuchten jemanden, der auf Kreta leistet, was der bewunderungswürdige Schliemann in Mykene geleistet hat.“
„Das ist eine anspruchsvolle Vorgabe.“ Dr. Reinders lachte geziert. „Wäre da nicht Professor Hörbinger der Richtige?“
„Hören Sie mir mit Hörbinger auf! Der ist alt und verkalkt. Er ist so tief in seinem Depot verschüttet, dass er von den neuen Zeitströmungen in Europa nicht mehr viel mitzubekommen scheint. Wir brauchen jemanden Jungen, Unvoreingenommen!“ Schedel stopfte sich ein paar Oliven in den Mund und wischte die öligen Finger am Tischtuch ab. „Was ist denn das überhaupt für ein Mensch, Ihr Professor? Kein Parteimitglied, so viel steht fest. Und er war wohl auch schon länger nicht mehr in Deutschland, denn was die dortigen Umwälzungen auch auf akademischem Gebiet angeht, scheint er völlig ignorant zu sein.“
Читать дальше