Wir haben gesehen, wie vielgestaltig sich Franken noch am Ende des 18. Jahrhunderts darstellte. Franken war kein staatsrechtlicher Begriff, lediglich der seit 1522 so bezeichnete Fränkische Reichskreis bildete ein gemeinsames Dach der fränkischen Reichsstände.54 Der Reichskreis war ab 1500 zunächst zur Wahl für die Beisitzer des Reichsregiments und später des Kammergerichts eingerichtet und dann mit weiteren Aufgaben wie der Erhebung der Reichssteuern, der Münzaufsicht und der Friedenswahrung betraut worden.55 Das Kreisdirektorium führte der Bischof von Bamberg, seit 1559 konnten die Markgrafen das Mit-Ausschreiberecht behaupten. Die Zollern übten auch das Amt des Kreisobristen aus. Bereits 1747 (Frankfurt und Leipzig) hatte Georg Paul Hönn ein „Lexicon Topographicum in welchem alle des Fränckischen Craises Städte, Clöster, Schlösser, Markflecken, und Dörfer“ verzeichnet waren, vorgelegt.
Der Fränkische Kreis war am Ende des 18. Jahrhunderts noch funktionsfähig, unterhielt ein stehendes Heer, nahm die Landfriedenswahrung wahr, kontrollierte das Münzwesen und überwachte die Durchführung der Reichshandwerksordnung. 1788 war eine Finanzreform durchgeführt worden, nach der mit der Amortisation der Schulden begonnen wurde. Seit 1791 tagte der fränkische Kreistag permanent in Nürnberg und entwickelte sich zu einer eigenständigen politischen Institution. Die Gesandten der 27 Kreisstände verstanden sich ein Stück weit als Gemeinschaft und begannen, eigene Konzepte zu entwickeln. Eine führende Rolle unter ihnen spielte Friedrich Adolph von Zwanziger (1745-1800), der als Delegierter die Interessen der Reichsgrafschaft Castell und mehrerer kleinerer Stände beim Kreis vertrat.56 Schon frühzeitig forderte er, den Kreis als Gesellschaft gleichberechtigter Stände mit Mehrheitsbeschlüssen zu organisieren.57 Den Usurpationsbemühungen Hardenbergs erwuchs in ihm ein ernsthafter Gegner. Auf Druck Preußens erhielten die Kreisstände 1795 sogar erweiterte Mitwirkungsrechte, worüber sie ein Abkommen schlossen, das in 1200 Druckexemplaren verbreitet wurde.58 Allerdings blockierten die brandenburgischen Delegierten dann bald die Zusammenarbeit im Kreis.59
Zwanziger nahm direkte Verhandlungen mit Vertretern der französischen Republik auf und reiste im Auftrag des Fränkischen Kreises im August 1796 nach Paris.60 Dies brachte ihm von Hardenbergs Pariser Gesandten den Vorwurf ein, er plane, den Fränkischen Reichskreis in „eine förmliche, unter französischem Schutz stehende, ständische Republik“ zu verwandeln.61 Mehrfach machte auch Hardenberg Zwanziger diesen Vorwurf und beschuldigte ihn damit als Jakobiner.62 Die Kreisgesandten waren aber sicher realistisch genug, keinen Umsturz der politischen Verhältnisse zu erstreben. Sicher haben sie sich Gedanken über eine künftige gemeinsame Verfassung der fränkischen Territorien gemacht, die Verbindung mit jakobinischen Gedanken ist aber allein den Anklagen Hardenbergs zu entnehmen. Die Identität als Mitglied des fränkischen Kreises dürfte sich auf einen engen Kreis politischer Eliten unter den Kreisgesandten beschränkt haben. Es gibt keine überzeugenden Beweise, daß die Bewohner der fränkischen Territorien ein grenzüberschreitendes, reichskreisweites fränkisches Gemeinschaftsgefühl entwickelt hätten. Die meisten Bewohner des Reichskreises fühlten sich als Untertanen ihrer Landesherren oder Bürger ihrer Stadt, denen ihre Loyalität galt; besonders in den Reichsstädten, aber auch in den geistlichen Territorien war der Kaiser als Reichsoberhaupt vielfach gegenwärtig, bei Reichstagen, bei Besuchen, bei zeremoniellen Akten durch Vertreter oder auch im Kirchengebet.63

Wir haben einen Überblick über das Franken des Ancien Régime, über das vor-hardenbergische Franken gewonnen, das in vielem ein Abbild des Heiligen Römischen Reiches in nuce bildete – und dieses sogar um einige Tage überlebte. Erst am 16. August 1806, also 10 Tage, nachdem Kaiser Franz II. (1768-1835) die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches niedergelegt hatte, erklärte der bayerische Gesandte beim Fränkischen Reichskreis, der in die Bamberger Direktorialrechte eingerückt war, die Kreisversammlung im Namen des Königs von Bayern für aufgelöst.64
Das am 1. Januar 1806 proklamierte Königreich Bayern bildete dagegen einen eigenständigen Staat, der über eine weitgehend ungebrochene Tradition vom Stammesherzogtum über das um die österreichischen Länder und Tirol verkleinerte Herzog- und Kurfürstentum bis zum souveränen Königreich verfügte, seit 1180 von Wittelsbachern regiert. Die wohl einschneidendsten Veränderungen seiner Geschichte erlebte es zwischen 1802 und 1815, als aus dem alten Kurfürstentum, säkularisierten Hochstiften des bayerischen, den meisten Territorien des fränkischen und den östlichen Teilen des schwäbischen Reichskreises das moderne Bayern geformt wurde.65 Damit sind wir am wohl schwärzesten Punkt der bayerisch-fränkischen Beziehungen angelangt. Mit Legitimität hatten die Säkularisationen und Mediatisierungen nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 sicher nichts zu tun, sondern mit kühler Machtpolitik. Und hätte Bayern nicht zugegriffen - eine müßige Fragestellung - hätte Preußen versucht, seine fränkische Stellung zu behaupten und auszubauen. Denken wir nur an die rigorose Politik Karl August Freiherr von Hardenbergs, der bei der Inbesitznahme der Markgraftümer für die Krone Preußen Ansprüche auf ganz Franken erhoben hatte.66 Hardenberg wollte die beiden Fürstentümer zum Brückenkopf für das Ausgreifen Preußens nach Süddeutschland ausbauen. Als nächsten Schritt plante er die Übernahme der Hochstifte Bamberg und Würzburg, wobei ihm in Bayern ein Gegner erwuchs, der mit ähnlichen Methoden arbeitete. Dieses konnte sich dabei auf Frankreich und Rußland stützen, die eine Hegemonialstellung Preußens verhindern wollten. Daran scheiterte Hardenbergs Politik eines „fränkischen Neupreußen“. Bereits 1802 besetzte Bayern die fränkischen Hochstifte, Würzburg bildete dann zwischen 1805 und 1814 ein eigenes Großherzogtum.67 Damals stand nicht Bayern gegen Franken, sondern Machtpolitik gegen altes Reichsrecht, das keine Verteidiger mehr fand. Die Markgraftümer kamen erst – auf dem Tauschweg und durch Verkauf – 1806 und 1810 an Bayern. Die übrigen weltlichen Territorien fielen meist im Zuge der Mediatisierung ebenfalls 1806 an das neue Königreich.
Widerstände bei der fränkischen Bevölkerung in den ehemaligen Hochstiften lösten weniger die Zugehörigkeit zu einem anderen Staatswesen und die damit verbundene Verwaltungsneuorganisation aus als vielmehr die radikalen Säkularisationsmaßnahmen. Die Aufhebung der Klöster und die Unterdrückung tradierten religiösen Brauchtums verletzten die Gefühle der gläubigen Bevölkerung. Kulturelle Werte und Kunstwerke gingen bei den vielfach barbarisch durchgeführten Aktionen zugrunde.
Herausragende Kunstschätze wurden nach München transportiert. Die dabei geschlagenen Wunden vernarbten lange nicht, der Dichter Karl Immermann (1786-1840) mußte die andauernde Empörung bei seiner „Fränkischen Reise“ noch 1837 feststellen.68 Diese modern-aufgeklärten Maßnahmen, dieser radikale Bruch mit der Tradition trafen aber nicht nur Franken, sondern ganz Bayern. Es war die Spätaufklärung, die ihre Kirchenfeindschaft und ihren Nützlichkeitswahn, ihre Ablehnung gewachsener Traditionen und ihren Zentralisierungsfetischismus auslebte.
Der Beginn der bayerischen Herrschaft in Franken stand so unter einem Unstern. Die Identität der ehemaligen Hochstiftsuntertanen war katholisch geprägt, Proteste entzündeten sich an antikirchlichen Maßnahmen. Noch stärker blieb in den Reichsstädten die Erinnerung an das Reich wirksam. Als im Juni 1809 ein österreichisches Freikorps nach Franken gelangte, öffnete ihm die Nürnberger Bevölkerung die Tore, gegen die Polizeidirektion kam es zu Ausschreitungen, die bayerischen Wappen wurden abgerissen. Die Identität der ehemaligen Reichsstädter hatte sich auf Nürnberg und darüber auf das Reich bezogen, die Loyalität galt dem römisch-deutschen Kaiser, die einfach auf den Kaiser von Österreich übertragen werden konnte. In den vormaligen Markgraftümern war noch die Anhänglichkeit den alten Landesherren gegenüber lebendig, die man dem König von Preußen bewahrt hatte. Daran änderten auch die panegyrischen Formen der Bekundung der Anhänglichkeit und des Gehorsams an den neuen bayerischen König zunächst nichts. Die traditionelle Loyalität zu Kaiser und Reich wie zu den Hohenzollern konnte sich in Franken mit der modernen nationalen Bewegung des Zeitalters der Befreiungskriege verknüpfen.
Читать дальше