1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Ein leises Knurren erinnerte sie daran, dass sie kaum etwas gegessen hatte und der Brotteig zum Backen noch unter einem Tuch in einer Schüssel wartete. Runa zog die Backplatte aus dem Ofen, formte aus dem Teig einen runden Laib und schob ihn auf der Platte in den Ofen. In der Vorratskammer lagerten in Weidenkörben reichlich Äpfel und Birnen. Sie nahm sich je ein Stück und erblickte gleichsam den Milchkrug. Ein Becher Milch zum Obst würde sie wohl erstmal sättigen. Sie nahm den Krug vom Regal und ein säuerlicher Geruch schlug ihr entgegen.
Angewidert hielt sie den Krug von sich und ging mit ihm durch die Küche in den Garten. An der Stelle, an der sie bereits heute Morgen ihr Badewasser entleert hatte, goss sie auch die verdorbene Milch aus. In dem weißen See, der sich im Gras bildete, schwammen kleine schwarze Fliegen auf den milchigen Klumpen, die vom Säuerungsprozess in der Milch ange- zogen wurden. Die Milchklumpen sahen wie kleine Eisschollen aus, die die Fliegen vorm Er- trinken retten sollten, aber für die Insekten kam jede Hilfe zu spät.
Am Brunnen schöpfte Runa Wasser, um den Krug auszuspülen, damit sich in ihm kein Schimmel bildete. Anschließend brachte sie ihn ins Haus und verspeiste ihr Obst. Die Früchte schmeckten ihr köstlich. Der Duft des frisch gebackenen Brotes ließ ihr das Wasser im Mun- de zusammen laufen. Sie liebte diesen Geruch, er hatte etwas von Geborgenheit.
Gerne würde sie jetzt in die Bibliothek gehen und ihr bereits begonnenes Buch „Flüster- zeit“ weiterlesen. Beim Aufräumen hatte sie es im Sessel vorgefunden und rechts auf den kleinen runden Tisch neben ihm gelegt. Der Schreck über das, was sie mit den „Waldge- schichten“ erlebt hatte, saß noch tief in ihr. Sie musste aber jetzt etwas tun, irgendetwas Sinn- volles, was sie ablenkte und vergessen ließ. Eine Möglichkeit war, in die Stadt zu gehen, um zu sehen, was noch zu retten oder zu gebrauchen sei. Oder sie könnte auf den Wiesen Aus- schau nach Nutztieren halten. Falls sie noch welche fand, müsste sie überlegen, welche Unter- bringungsmöglichkeiten sie für sie bei sich hätte.
Runa war so voller Tatendrang, ihr Leben zu retten. Sie wollte überleben, nicht sterben. Aber was würde passieren, wenn sie ihrem Verfolger über den Weg liefe? Hätte sie dann überhaupt eine Überlebenschance? Sie musste sich einen Plan machen, einen sicheren, der realistisch war, der eine Zukunft hatte. Erst, wenn sie den hatte, würde sie sich wieder in die Stadt trauen. Was konnte sie jetzt tun?
Die Abfälle des Obstes riefen eine Idee in ihr hervor. Runa ging in ihre Schlafkammer und holte Papier und einen Schreiberling. Damit ging sie in die Vorratskammer und vermerkte, was sie an Nahrungsmitteln und sonstigen Vorräten vorfand. Zufrieden über ihren Fund, setz- te sie sich an den Küchentisch und überschlug, wie lange sie wohl damit hinkommen könnte. Wenn sie sparsam lebte, würde sie es über den Winter schaffen und vielleicht sogar bis in den Frühling. Also konnte sie sich noch Zeit lassen, bis sie ihre Erkundungstour in die Stadt machte. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Rumtreiber bis dahin verschwunden war, schien doch größer zu sein.
Das Feuer im Ofen war fast runtergebrannt, und Runa nahm das fertig gebackene Brot raus. Die Hitze, die das heiße Brot abgab, wärmte ihre Hände und ihre Nase sog den herrlichen Duft ein. Anschließend legte sie Holz nach, damit das Feuer seine neue Kraft entfalten konnte. Dann goss sie neues Wasser in den Kessel, um später Tee aufbrühen zu können. Der Holzvor- rat unter der Ofenbank neigte sich dem Ende zu, was dem Mädchen eine neue Aufgabe stellte. Sie ging zum Holzschuppen und nahm Arons Beil vom Haken. Ihre Hände sackten Richtung Boden und Runa musste Acht geben, damit sie sich das Beil nicht selbst ins Bein hackte. Sie hätte nicht gedacht, dass dieser kleine, handliche Gegenstand so schwer sein könnte. Der Hackklotz stand ihr gegenüber und dicke Holzscheite, die auf die Zerteilung warteten, lagen auf einem großen Haufen daneben.
Bei Vater und Onkel Aron sah es immer so leicht aus. Dann kann ich das doch auch schaffen. Sie nahm sich einen dicken Holzklotz vom Haufen und stellte ihn auf den Hackklotz. Das Ge- wicht des Beils lastete schwer in ihren Händen. Hoffentlich überlebe ich das jetzt und begehe nicht Selbstmord? Auf meinem Grabstein stünde dann geschrieben:
DIE AUSROTTUNG DORFLANDS HATTE SIE ÜBERLEBT, ABER DAS HOLZHACKEN WURDE IHR ZUM VERHÄNGNIS. RUNA ERSCHLUG SICH MIT EINEM BEIL BEIM HOLZHACKEN- IRONIE DES SCHICKSALS.
Zaghaft schlug sie die Klinge des Beils in den Klotz, sie blieb stecken, anstatt ihn zu spalten. Nach langem Hin- und Herziehen bekam sie die Klinge aus dem Holzstück heraus, stellte es erneut auf und wagte einen neuen Versuch, der genauso kläglich endete, wie der erste. Bei je- dem weiteren Versuch legte sie mehr Kraft in das Beil, in dem sie mit mehr Schwung aus- holte, bevor sie zuschlug. Nach fünf Versuchen hatte sie ihr erstes Holzstück gespalten und schwitzte wie nach einem stundenlangen Marsch. Bereits jetzt schmerzten ihre Arme und dabei hatte sie gerade mal drei Scheite, die sie gleich im Küchenfeuer nachlegen konnte. Da sie sich immer wieder mit den Worten neu anspornte: „Ich schaffe das!“, machte sie sich kei- ne Gedanken mehr darüber, wie sie es schaffen sollte, sondern tat, was getan werden musste.
Viele Stunden verbrachte Runa im Schuppen und hatte doch noch einen ansehnlichen Stapel erarbeitet. Sie wusste nicht mehr, nach welchem Versuch sie die richtige Schlagtechnik raus- gefunden hatte, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie konnte jetzt Holz hacken. Natürlich war ihr Ergebnis nicht so ergiebig wie Arons Ertrag nach dieser Zeit, fürs Erste jedoch stimmte sie ihr Ergebnis zufrieden. Das stolze Mädchen hängte das Beil zurück an seinen Platz und sammelte die gehackten Holzscheite in einem Weidenkorb an der Wand. Die kleineren, abgesprungenen Holzstückchen legte sie in eine Kiste, brachte sie in die Küche und leerte sie ins Fach der An- zündspäne.
Das ausgekühlte Brot auf der Anrichte signalisierte ihr, dass sie die Arbeit hungrig gemacht hatte. Eiligen Schrittes begab sich das hungrige Mädchen zurück zum Schuppen, um einen Teil der Scheite in der Küche zu lagern. Ihre neue Aufgabe hatte sie so sehr in Beschlag ge- nommen, dass Runa gar nicht bemerkte, wie die Dämmerung hereinbrach. Ein heißes Bad wäre gut, aber jetzt noch Wassereimer schleppen, dazu konnte sie sich nicht mehr aufraffen, obwohl sie so verschwitzt war. Runa liebäugelte mit dem See.
Verlockend, aber kalt. Leider stinke ich nach einer Horde Bauern, die sich seit einem Jahr nicht gewaschen hat. Ihr Vergleich war wohl etwas übertrieben, denn sie hatte ja erst gestern Abend gebadet, aber sie fühlte sich halt so. Reinlichkeit war ihr äußerst wichtig. Diese Acht- samkeit oder Krankheit, wie manche sagten, die von Runas fast täglichen Bädern wussten, hielt viele Krankheiten von ihr fern. Sie erkrankte äußerst selten und wenn, war es nie bedroh- lich.
Das Wohlbefinden hatte gesiegt. In Windeseile schlüpfte sie aus ihrer Kleidung, ging in den See und tauchte bis zum Hals ab. Runas Körper reagierte sofort mit Zittern und einer Gänse- haut. Ihre Zähne klapperten so laut, dass man meinen könnte, es beginne zu donnern. Wer nicht stinken will, muss leiden. Mit ihren Händen schöpfte sie Wasser und ließ es sich übers Gesicht laufen. Sie fühlte sich wieder wie Runa. Wie sie selbst. Das erfrischte Mädchen verließ den See, nahm ihre Sachen und ging triefend wie sie war zum Haus. Sie warf ihre Kleidung achtlos auf einen Schemel und stellte sich zum Trocknen an den Ofen.
Das Sonnenlicht war erloschen und Runa zündete die Öllampe in der Küche an. Inzwischen war sie getrocknet. Sie zog sich wieder an und bemerkte erst jetzt richtig, wie sehr ihre Arme und Schultern schmerzten. In ihren Handflächen hatten sich Schwielen gebildet, die durch die Reibung mit dem Holzgriff des Beils entstanden waren. Jede weitere Bewegung sendete ihr einen Blick in ihre Zukunft. Diese Schmerzen werden sie wohl auf lange Sicht begleiten und daran erinnern, wofür sie dieses Leiden auf sich nahm. Leiden für ein sicheres Leben.
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