Das Mädchen stand auf und ging zu einem Fach mit Naturbüchern neben der Eingangstür der Bibliothek. Zielstrebig griff sie hinein und zog das Buch „Die Waldgeschichten“ heraus. Sie drückte es an ihre Brust, umschlang es mit beiden Armen, schloss die Augen und sog den modrigen Duft des Buches ein.
Runa ging zurück zur Bank und ließ sich mit dem umklammerten Buch nieder. Immer fester drückte sie das Buch an sich, als ob sie es vor einem Dieb schützen müsste. Sie spürte wie ihr warm wurde, richtig heiß. Langsam lockerte sie ihren Klammergriff und fast wäre ihr das Buch aus den Händen gefallen, weil sie plötzlich anfingen zu kribbeln. „Die Waldgeschich- ten“ landeten sicher auf ihren Knien. Runa drückte ihre Finger und schüttelte ihre Hände, bis sie meinte, das Kribbeln in ihren Händen verscheucht zu haben. So ein Empfinden hatte sie noch nie bei der Berührung eines Buches. Sie hatte doch so viele Bücher von Olef bekommen, warum sie ausgerechnet jetzt „Die Waldgeschichten“ ausgewählt hatte, war ihr gar nicht be- wusst.
Sie hatte es nach Anweisung des Buchhändlers so in die Bibliothek eingeordnet, dass es nie- mandem so einfach auffallen konnte. Sie musste zugeben, sie hatte es weder gelesen noch an- geschaut. Wie in Trance hatte sie es auf direktem Weg nach Hause gebracht und weggestellt. Erst als sie gestern die Glocke in den Händen hielt, kam die Erinnerung an es zurück. Was hatte Olef noch über dieses Buch gesagt? Gestern konnte ich mich noch erinnern. Irgendetwas mit- es habe außergewöhnliche Kräfte und benötige liebevolle Pflege, damit sei- ne Magie nicht erlösche. Wie konnte ich nur dieses schöne Buch vergessen? Der Teil mit der liebevollen Pflege hat wohl nicht funktioniert.
Jetzt hatte sie doch Zeit es sich anzuschauen und darin zu lesen. Runa legte das Buch neben sich auf die Bank und machte es sich bequem. Sie saß im Schneidersitz und lehnte an der Ka- minwand. Nun legte sie das Buch auf ihre Knie und wollte es aufschlagen. Es blieb aber nur beim Versuch, denn das Buch ließ sich nicht aufschlagen. Völlig verdutzt nahm Runa das Buch in beide Hände und zog vorne und hinten am Einband. Da sie ihre Kräfte überschätzte, flutschte ihr das ungeöffnete Buch aus den Händen und landete mit dem Titel nach oben zei- gend auf dem Boden.
Ich werde doch wohl noch ein Buch öffnen können? Das ist ja wohl eine meiner leichtesten Übungen. Das mache ich doch im Schlaf. Runa stand auf, nahm das Buch und setzte sich wie- der mit ihm hin. Sie betrachtete und befühlte es eingehend. „Du siehst aus wie ein Buch. Du riechst wie ein Buch. Und außerdem hat Olef gesagt, du seiest ein Buch. Also bist du auch eins und hast dich öffnen zu lassen wie ein Buch. Haben wir uns verstanden? Also, auf ein Neues.“
Bevor Runa einen weiteren Versuch wagte, das Buch zu öffnen, beäugte sie noch einmal ein- gehend den Schriftzug. Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. Ich glaube, ich werde so langsam verrückt. Erst lässt sich dieses Buch nicht öffnen und dann verschieben sich seine Buchstaben zu einer Fratze, die mich hämisch angrinst. Sie kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und das Buch trug den Titel „Die Waldgeschichten“. Es war klar und deutlich zu lesen. Erneut versuchte Runa das Buch zu öffnen, wieder und wieder- sie schaffte es einfach nicht. Sie betastete das Buch Millimeter für Millimeter, in der Hoffnung, einen geheimen Mecha- nismus zu finden. Es war kein Klick zu hören, der das Buch öffnete. „Was mach ich bloß mit dir?“
Ratlos zog sie ihre Beine an den Oberkörper und bettete „Die Waldgeschichten“ zwischen Oberschenkel und Brust. Sie legte den Kopf darauf und umklammerte mit ihren Armen ihre Beine. Die obere Kante des Buches ragte ein Stück über ihre Knie und drückte sich in ihr Ge- sicht, aber es schien Runa gar nicht zu stören. Die Hitze, die sie eben schon einmal verspürte, als sie das Buch aus dem Regal nahm, kehrte zurück.
Ihr wurde so heiß, dass sie befürchtete zu verbrennen. Sie wollte sich der Hitze entziehen, aber konnte sich nicht rühren. Das Buch schloss sie in ihren Bann und gab sie nicht frei. Das verängstigte Mädchen konnte nicht schreien, nicht atmen und war auch nicht in der Lage sich zu befreien. Sterne funkelten in allen erdenklichen Farben vor ihren Augen, Blitze schossen in ihren Kopf und Buchstaben tanzten auf ihren Händen. „Die Waldgeschichten“ erwachten.
Ein Zischen sauste durch Runas Ohren und sie glaubte taub zu werden. Es schien eine Ewig- keit zu dauern, bis der Spuk ein Ende hatte und alles so war wie zuvor. Keine Hitze, Sterne oder Buchstaben. Auch das Zischen war verebbt.
Runa richtete sich auf und warf das Buch zu Boden. Nie hätte sie sich vorstellen können zu so einer Tat fähig zu sein. Einen Augenblick lang schmerzte sie ihr Tun, aber was hatte das Buch mit ihr angestellt? Es wollte mich töten, qualvoll verbrennen wollte es mich. Nein! Es wollte mich zu sich hineinziehen, Besitz von mir ergreifen- meine Seele stehlen. So hatte sich ihr Herz angefühlt.
Das Buch machte Runa Angst. Anklagend lag es am Fuße des Ohrensessels und schien auf eine Entschuldigung von ihr zu warten. Je länger sie das Buch anstarrte, desto unheimlicher wurde es ihr. Sie nahm ein Kissen von der Bank und warf es auf das Buch. Nun fühlte sie sich ein bisschen besser, aber „Die Waldgeschichten“ waren nicht wirklich verschwunden, sie la- gen noch immer in ihrer Nähe, unter dem Kissen verborgen.
Langsam setzte Runa sich hin und ließ die Füße auf den Fußboden gleiten. Mit den Händen stützte sie sich auf der Bank ab. Immer noch starrte sie wie gebannt auf das Kissen, obwohl sie sich vor dem Verborgenen fürchtete. Ich will einfach nur noch hier raus. Ich muss bloß aufstehen und die Treppe hochgehen, dann bin ich hier verschwunden. Es ist doch ganz ein- fach. Wie immer.
Nein, es war nicht wie immer. Ihr Körper rührte sich nicht. Ihre Füße wollten einfach nicht zur Tür hinauslaufen. Das Mädchen stellte sich eine massive Eisenkugel vor, die die Größe ihres Hauses besaß, so kam sie sich gerade selbst vor. Schwer und unbeweglich. Dazu ver- dammt, auf dieser einen Stelle zu verweilen, bis zum letzten Atemzug. Einer unendlichen Angst ausgesetzt, die von einer machtvollen Bedrohung zu ihren Füßen ausging- einem Buch.
Wie schon so oft in den letzten Stunden, wollte Runa sich von keiner Angst besiegen lassen. Ich will jetzt gehen! Den Blick weiterhin auf das Kissen gerichtet, stand sie langsam auf und machte kleine, vorsichtige, seitliche Schritte in Richtung Tür. Obwohl es sie danach drängte loszurennen, war ihre Anspannung zu groß. Wachsamen Schrittes schlich sie förmlich zur Tür, mit der selbst auferlegten Aufgabe, kein Geräusch von sich zu geben. Das leiseste Geräusch könnte dem Buch ja verraten, dass sie fliehen wollte. Womöglich käme es dann angesprungen um sie in seinem Buchstabenfluss zu ertränken oder mit Haut und Haaren zu verschlingen.
Als Runa endlich an der Tür ankam, vergewisserte sie sich ein letztes Mal, ob das Buch noch verborgen war und rannte schnell die Treppe zur Eingangshalle hoch. Die letzte Stufe ent- puppte sich als Stolperfalle und sie flog förmlich in die Halle. Unsanft landete sie auf dem kalten Steinboden. Bevor sie begriff, was gerade geschah, schmeckte das überraschte Mäd- chen Blut auf ihren Lippen. Ihre Nase schwoll mit pochendem Schmerz rasant an. Runa rap- pelte sich auf und ging in die Küche, tauchte einen Lappen ins kalte Wasser, mit dem sie versuchte die Blutung zu stoppen. Dabei blieb sie am Küchenfenster stehen und schaute hi- naus in den Garten.
Es dauerte nicht lange, bis die Blutung gestillt war und in der kurzen Zeit fragte sie sich aufs Neue, wieso sie sich vor einem Buch gefürchtet hatte. Sie hatte doch schon viele Bücher gele- sen. Bücher mit grausamen Geschichten, die gruselig und spannend waren, aber nie hatte sie Angst gehabt. Im Gegenteil, je gruseliger eine Geschichte war, desto besser. Sie kannte ja nicht einmal den Inhalt dieses Buches. Wenn sie so über das Buch nachdachte, war es nicht das Buch selbst, was sie ängstigte, sondern das, was geschehen war, als sie es berührte. Ihre Berührung mit dem Buch verlieh ihm eine unendliche Kraft, die von ihr Besitz ergreifen und sie beherrschen wollte. Aber warum?
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