Während Runa reglos auf der Erde lag, hatte sie das Gefühl, die Erde hülle sie in ein weiches Bett, das ihr schöne und leichte Träume schenkte. Sie fühlte sich so leicht und unbeschwert. Runa sog den Duft der Natur ein, der sie einhüllte und ihr den Einzug des Herbstes ankündig- te. Wie wundervoll und lebendig die Natur doch sein konnte, so mächtig und würdevoll mit ihren Farben, Formen und Gerüchen. Einfach nur so liegen, für immer, nie mehr aufwachen aus dieser Ruhe .
Ruhe bedeutete, niemand schien ihr gefolgt zu sein. Niemand, der ihr Leben nehmen wollte. Die Erkenntnis weiter zu leben entlockte Runa ein kleines Lächeln. Sie richtete sich auf, überlegte, was sie jetzt tun solle. Vor allem durfte sie keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn die Person, die sie beobachtet hatte, sie nicht kannte, hatte sie eine reale Chance, zu ihrem Haus zu gelangen, um sich dort zu verstecken. Ihren Gedanken nachgehend schlug Runa die Richtung ein, in die sie gerade blickte, entgegengesetzt der, aus der sie glaubte gekommen zu sein.
Ein lautes Kreischen riss sie aus ihren Überlegungen und erschreckte sie fürchterlich, sodass sie selbst laut aufschrie. Raben fühlten sich durch das Mädchen bedroht und flogen krei- schend durch die Luft, schlugen wild mit ihren Flügeln und blickten bedrohlich auf sie hinab. Runa stierte in den Himmel und sah ihrem Treiben zu, anstatt sich von ihnen verscheuchen zu lassen. Einer der Raben hatte eine Feder verloren, die in ihre Richtung flog. Sie wollte sie im Flug ergreifen, verfehlte sie jedoch knapp. Die Feder landete vor ihren Füßen.
Runa wollte sie aufheben und erblickte beim Bücken den Umriss einer Gestalt. Wie konnte er sich so lautlos an mich heranschleichen? Meine Schritte durch das Feld verursachen doch keine lauten Geräusche. Das erschreckte Mädchen rechnete damit, dass die Person in Erschei- nung trat, jetzt, da sie von ihr entdeckt wurde. Aber das tat sie nicht. Wie gebannt schaute Runa in die Richtung, in der sie die Gestalt ausmachte. Ihr Atem ging schneller und ihre Hän- de begannen erneut zu zittern, aber nichts rührte sich.
Was ist das bloß für ein nervenaufreibendes Spiel, was mit mir gespielt wird? Mir Angst ein- jagen- mich in Sicherheit wiegen, nur um dann den Anschein erwecken zu lassen, mein letzter Lebensmoment sei gekommen, und dann passiert wieder nichts. Bin ich zur Jagdbeute eines Mörders geworden? Spielt er Katz und Maus mit mir? Hat er es vielleicht mit allen in Dorf- land so gemacht, bevor sie ihren letzten Atem aushauchten? Was bist du bloß für eine Bestie? Du kannst kein Mensch sein! Menschen tun so etwas nicht. Du kannst nur ein Dunkeldämon sein, der die tiefsten Gefilde der Hölle bewohnt.
Irgendwie erschienen ihr die Umrisse hinter den Ähren menschlich, aber ihre Gestalt schien doch größer als ein Mensch zu sein. Ihr Kopf kam Runa eigenartig geformt vor, und die Ge- sichtsfarbe schien auch nicht menschlicher Natur zu sein. Genau konnte sie es gar nicht aus- machen, da die Sonne allmählich den Horizont verließ. Sie wurde geblendet und ein klarer Blick war ihr verwehrt. Wie schön die Sonne doch in ihrem roten Kleid ist. Ein wundervolles Bild, das ich mit in den Tod nehmen kann. Eingehüllt in die kraftvolle Wärme ihrer Strahlen, die gleich erlöschen werden, damit der Mond mit seinem allabendlichen Auftritt beginnen kann.
Runa konnte die Anspannung nicht mehr aushalten. Eine Flucht schien ihr jetzt unmöglich. Obwohl sie sich elend fühlte, nahm sie all ihren Mut zusammen und trat Schritt für Schritt auf die Gestalt zu. Einige dicht stehende Ähren versperrten ihr den direkten Weg, sodass sie sie mit den Händen zur Seite drücken musste. Sie fühlte sich mutig, aber nicht so mutig, um den Blick aufrecht zu halten und ließ ihn über das Erdreich schweifen. Nur wenige Schritte vor der Gestalt hielt sie an, doch nichts geschah. Kein Wort wurde gesprochen, keine Hand streckte sich ihr entgegen. Es war totenstill.
Runas Blick verweilte immer noch am Boden und irgendetwas schien ihr hier nicht ins Bild zu passen. Sie vermisste einen zweiten Fuß oder Schuh oder Stiefel. Nichts dergleichen stand ihr gegenüber, sondern ein Pfahl. Als sie dies registrierte, ruckte ihr Kopf schlagartig in die Höhe und blickte in ein Lumpengebilde- in eine Vogelscheuche.
Natürlich. Wie konnte ich so dumm sein? Jeder Bauer hat auf seinen Feldern Vogelscheuchen stehen, damit sie die Vögel von einer Plünderung der Ernten abhielten. Runa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie befand sich in Bauer Knuts Weizenfeld und dieser hatte ihr doch schon im Frühjahr davon erzählt, dass seine alte Vogelscheuche es nicht mehr über den Winter geschafft hatte und er deshalb eine neue aufstellen musste.
Was bin ich doch für eine dumme Gans? Ich lasse mich von einer Vogelscheuche erschrecken und mir Todesangst einjagen. Runa, du bist dreizehn Jahre alt und nicht drei. Das darf ich niemandem erzählen, ich wäre das Gespött in Dorfland und… Schmerzlich wurde ihr wieder bewusst, dass es niemanden mehr gab, dem sie es hätte erzählen können, niemanden, der über sie hätte lachen können, niemanden mehr, der ihr kindisches Verhalten hätte weitererzählen können.
Das traurige Mädchen blickte auf ihre Hände, sah auf den Boden, drehte sich und suchte ihn mit hektischen Blicken ab. Wo war die Glocke? Mein Andenken an Olef. Wo habe ich sie fallen gelassen? Sie begab sich auf die Knie und suchte nach dem Messinggegenstand, konnte ihn aber nicht finden.
Ich muss sie auf der Flucht vom Marktplatz verloren haben. Aber dann hätte ich sie doch fallen hören. Es wäre doch ein schepperndes Geräusch ertönt, das hätte ich nicht überhören können. Und dann fiel es ihr wieder ein. Der Brunnen. Sie hatte die Glocke dort abgelegt. Sie war doch so durstig gewesen, hatte Wasser getrunken und dann war da dieser Schatten, vor dem sie geflüchtet war. Sie hatte sie einfach dort liegen gelassen, hatte nur an sich gedacht, nicht an Olefs einziges Erbe, eine Erinnerung, die nur ihnen beiden gehörte.
Sie konnte nicht zurück in die Stadt laufen. Irgendwo da draußen lauerte immer noch die Gefahr auf sie. Ich werde sie holen, nicht gleich, aber ich werde sie mir zurückholen- irgend- wie. Das bin ich Olef schuldig . Traurig und von Selbstvorwürfen geplagt bahnte Runa sich einen Weg durch das Weizenfeld, mit der Hoffnung, am Ende keine weitere böse Über- raschung erleben zu müssen. Niemandem zu begegnen, der nicht einst ein Dorfländer war.
Nach einer Weile nahm sie einen anderen Farbton am Boden wahr. Das dunkle Braun der Erde verblasste zu einem Grauton. Sie hatte es geschafft. Sie war am Rande des Feldes ange- langt, der an einen Weg grenzte. Der Blick auf die staubige Straße rief Erleichterung in ihr hervor, weil sie jetzt endlich aus dem Feld hinaus konnte. Gleichzeitig verunsicherte es sie aber auch, noch drei Schritte und sie hätte wieder festen Boden unter ihren Füßen.
Würde sie weiterhin allein sein oder stand dort jemand, der sie in Empfang nahm, der diesen Wahnsinn, den sie gerade erlebte, beendete? Schritt für Schritt schlich sie zum Rand des Fel- des, hockte sich hin und streckte den Kopf langsam nach vorne, um auf den Weg zu schauen. Weder vor ihr, noch links, noch rechts konnte sie eine Person, eine Bewegung oder einen Laut ausmachen.
Runa stellte sich wieder hin und trat aus dem Weizenfeld auf den verstaubten Weg. Mehrmals blickte sie in alle Richtungen, um Gewissheit zu haben, niemand lauere ihr auf. Als sie sich beruhigt hatte, konnte sie sich wieder orientieren und wusste, wo sie sich gerade befand. Sie schaute direkt auf Eichen und Kastanien. Sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Runa blickte auf den Baumring, der ihr Zuhause umgab. Nur noch ein kurzes Stück laufen, dann wäre sie in Sicher- heit.
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