Natürlich sei diese Glocke nicht einfach nur eine Glocke, sondern eine wachsame Glocke. Im- mer, wenn jemand Fremdes seinen Laden betrete, würde sie ihn warnen und er könne dann besonders gut auf seine Bücher Acht geben. Olef fand diese Begründung so rührselig, dass er Runa eins seiner Lieblingsbücher „Die Waldgeschichten“ schenkte. Dieses Buch war für den Buchhändler etwas ganz Besonderes, weil sein Ledereinband eine besonders faszinierende Arbeit war. Die Berührung und der ausströmende Duft des Leders hatten immer eine beruhi- gende Wirkung auf ihn.
Olef hatte Runa dieses Buch geschenkt, mit dem Hinweis, dass es außergewöhnliche Kräfte besäße und sie immer sorgsam mit ihm sein müsse. Es bedürfe eines ganz liebevollen Um- gangs, damit die Magie, die in ihm verborgen sei, nie erlösche. Ehrfurchtsvoll nahm sie das Buch entgegen und konnte gar nicht glauben, dass Olef ihr eins seiner Lieblingsbücher schenkte. Wie gebannt starrte sie das Buch an und hatte das Gefühl in eine andere Welt zu schwinden. Der Traum platzte jedoch schnell, als der Alte ihr das Buch noch einmal aus der Hand nahm und es in ein Tuch wickelte. Er bat sie zum Abschied, niemandem das Buch zu zeigen und auf direktem Weg nach Hause zu gehen. Der Buchhändler richtete noch eine letzte Bitte an sie, „Die Waldgeschichten“ mögen einen besonderen, aber nicht zu auffälligen Platz in ihrer Bibliothek bekommen.
Und nun endete auch diese Geschichte. Runa begab sich mit der Glocke zwischen den Hän- den zurück zum Dorfplatz. Es gab kein Leben mehr in Dorfland, es war ausgelöscht. Jegliches Leben wurde ihm genommen, außer Runas. Was habe ich jetzt hier noch für eine Zukunft? Runa ertrug das grausame Schauspiel, das einem Schlachtfeld glich, nicht weiter und be- schloss nach Hause zu gehen. Ihre Tränen waren versiegt und ihr Hemd fühlte sich an, als ob sie vergessen hätte, es beim Waschen auszuziehen. Ihr linker Arm brannte, sie zog den Ärmel hoch und da erst wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich beim Sturz verletzt hatte. Das eingetrocknete Rinnsal Blut signalisierte ihr dies ganz deutlich. Was bedeutet schon dieser Kratzer, wenn sich mein Leben in Luft auflöst?
Während sie den Ärmel wieder herunterzog, überkam sie ein neues Gefühl der Angst, was ihr die Luft zum Atmen nahm. Runa hatte das Gefühl, von irgendetwas durchbohrt zu werden. Nichts Körperliches, wie ein Pfeil, der sie durchdrang, sondern ein starrer Blick. Wer oder was immer dieses Grauen vollbracht hat, will es mit meinem Tod beenden.
Während sie so dastand, völlig reglos und darauf wartete, dass der Tod sie an die Hand nahm und den Abgrund zur Hölle öffnete, lief ihr kurzes Leben wie ein Bilderbuch an ihr vorbei. Bis zum jetzigen Zeitpunkt und dann klappte das Buch zu. Ende. Nichts geschah! Weder tat sich der Boden zu ihren Füßen auf, noch kam der Tod und nahm sie an die Hand. Langsam schaute sie an ihrem Körper hinunter, ob sie eine blutende Wunde entdeckte, einen Pfeil, der aus ihr rausragte- da war nichts. Sie konnte sich bewegen, atmen, sehen- sie lebte. Mit rasen- dem Puls drehte sie sich um, es war niemand zu sehen, nur die Rauchsäulen, die weiter zum Himmel emporstiegen, kein Tier, keine Menschenseele. Erleichtert atmete Runa ein und aus. Sie redete sich ein, jemand hätte es auf sie abgesehen. Denkbar wäre es, aber hier gab es nie- manden mehr, außer ihr. Dorfland war tot.
Plötzlich stürzte vor ihr das Haus des Obst- und Gemüsehändlers ein. Ein markerschütternder Lärm erfüllte die Stadt. Eine große Staubwolke bildete sich über dem eingestürzten Haus, und Runa hatte das Gefühl, am Staub zu ersticken. Sie musste so heftig husten, dass die Anstren- gung sie dadurch in die Knie zwang. Sie hatte noch nie so einen Anfall gehabt, von dem sie glaubte, sich die Seele aus dem Leib zu husten.
Auf allen Vieren mit der Glocke in der Hand, krabbelte sie in eine geschützte Ecke, die von der Staubwolke kaum berührt wurde. Der Brunnen schien ihr willkommenen Schutz zu bieten. Als der Husten allmählich verebbte, sehnte sie sich nach Wasser. Wasser schien jetzt das All- heilmittel zu sein. Ihre trockene Kehle würde sie ersticken lassen. Bei diesem Gedanken musste sie lachen. Was für einen Schwachsinn denke ich eigentlich. Ich sehne mich nach Was- ser, wo ich gerade alle Menschen verloren habe, die mir etwas bedeutet haben .
Erst jetzt wurde ihr bewusst, an welcher Stelle sie sich gerade befand. Am Brunnen. Im Brun- nen ist bekanntlich Wasser. Also lässt sich dieses eine Problem für mich lösen . Runa legte die Glocke auf den Boden, zog sich am Brunnenrand hoch und drehte die Winde. Ein hölzerner Eimer, der an einem langen Seil an der Winde befestigt war, konnte so in den Brunnen gelan- gen. Als sie das Plätschern des Wassers vernahm, drehte sie die Winde in die andere Richtung, bis der Eimer in ihrem Blickfeld erschien.
Völlig erschöpft und entkräftet ließ sie sich auf den Brunnenrand sinken und schürfte mit ihren Händen das Wasser aus dem Eimer, welches sie mit gierigen Schlucken trank. Ihre Gier ließ sie sich verschlucken. Runa musste erneut husten und spuckte dabei einen Teil der Flüs- sigkeit wieder aus. Ruhig. Ganz langsam. Es gibt niemanden mehr, der dir etwas wegnehmen kann. Alles Wasser ist für dich allein. Das Mädchen entnahm erneut Wasser aus dem Eimer und trank nun in kleinen Schlucken. Das kalte Wasser kühlte ihre Kehle, löschte ihren Durst und schenkte ihr neue Kraft.
Während sie gebeugt über dem Eimer weiter ihr Trinkwasser schöpfte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, die sie so sehr erschreckte, dass sie das Holzgefäß um- stieß und das restliche Wasser zurück in den Brunnen floss. Also hat mich doch jemand beo- bachtet . Ich habe mich nicht getäuscht. Wer ist er oder sie? Ist es Freund oder Feind? Hat doch jemand von Dorfland überlebt und braucht Hilfe? Oder werde ich jetzt sterben ?
Runa warf kurze, hektische Blicke um sich, sah aber niemanden und rannte zurück auf die Außenstraße, an dessen Ende Jacob und Enna lebten. Ohne zu denken legte sie all ihre Kraft in ihre Beine und lief die Straße entlang. Um nicht noch einmal am abgebrannten Nachbars- haus vorbei zu müssen, schlug sie den Weg zum Mühlbach ein, der hinter einem Weizenfeld lag, das an das Haus ihrer geliebten Freunde grenzte. Falls ihr jemand folgen sollte, könnte sie versuchen, sich im Feld zu verstecken.
Ihre eigenen Schritte hallten in ihren Ohren und ihr eigener Atem kam ihr so laut vor, dass sie gar nicht ausmachen konnte, ob ihr ein Verfolger auf den Fersen war. Jetzt wollte Runa nur noch eins, zurück nach Hause, in ihre Bibliothek, einen Tee, der sie wärmte, ihre Bücher an- sehen und denken, es ist alles gut. Sich das Gefühl geben lassen, hier in deiner Welt bist du sicher. Nimm dir ein Buch und tauche ab in eine neue Welt, die dir neue Gedanken schenkt und dich der Realität entzieht.
Das hilflose Mädchen traute sich nicht, einfach auf der Straße stehen zu bleiben. Es war zu verängstigt sich umzublicken, ob ihr jemand nach dem Leben trachtete. Sie lief an irgendeiner Stelle in das goldgelbe Weizenfeld hinein und bahnte sich einen Weg durch die leuchtenden Ähren. Die Halme piekten und kitzelten sie an den Händen und in ihrem Gesicht. Ihre langen Haare klammerten sich beim Durchlaufen an die Halme, um sie scheinbar am Weiterkommen zu hindern, noch einen Schritt weiter ins Innere des Feldes zu gelangen. Mittlerweile hatte Runa völlig die Orientierung verloren und wusste nicht, in welche Richtung sie weiterlaufen sollte, aus Angst am Anfangspunkt zu landen und von ihrem Verfolger in Empfang genom- men zu werden.
Erschöpft und schweißgebadet ließ sie sich auf den Boden sinken, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Sie konnte sich nicht aufraffen weiter zu laufen, nur einen Moment wollte sie sich ausruhen. Wenn ich dann noch lebe, versuche ich weiter zu überleben. Jetzt kann ich einfach nicht mehr.
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