Die Freude auf das, was sie erwartete, ließ sich nicht mehr bändigen. Schnell und doch wachsam ging sie am plätschernden Bach entlang, über den schmalen Steg, der zu ihrem Haus führte. Wie gut es tat, unter ihren Bäumen entlang zu gehen, ihre rot, gelb und braun gefärb- ten Blätter zu betrachten. Unter ihrem rechten Fuß spürte sie eine Verdickung, die durch die Sohle ihres Stiefels an ihre Fußsohle drückte. Runa trat einen Schritt zur Seite und fand eine dicke, glänzende Kastanie. Sie hob sie auf, ließ sie in ihrer Handfläche wandern und betastete mit ihren Fingerkuppen liebevoll die glatte, glänzende Schale der Frucht.
Der Herbst ist da. Wie ich ihn liebe mit seinen kühlen Winden, Stürmen und Unwettern. Was gibt es Schöneres, als in der Bibliothek zu sitzen, ein tolles Buch zu lesen, dem Unwetter zu trotzen und es doch zu lieben? Für das Mädchen bedeutete so ein Moment alles, denn er war ihr Freiheitsgefühl. Sich in den tosenden Winden zu verlieren und die unendliche Macht der Natur zu sehen, gegen die jeder machtlos war. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, hinaus in den Sturm zu gehen und sich von ihm mitreißen zu lassen.
Runa ging am See vorbei, den sie achtlos hinter sich ließ. Sie sah, dass die Eingangstür offen stand. Sofort beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Hatte sie in ihrer Panik die Tür nicht verschlossen? Oder wusste ihr Beobachter, wer sie war und wohin ihr Fluchtweg sie führte? Wartete er womöglich in der Halle auf sie? Begrüßte er sie vielleicht mit den Worten: „Gut gemacht, aber nicht gut genug. Du kannst mich nicht austricksen, Runa. Während du dir vor Angst fast in die Hosen gemacht hast, habe ich hier gemütlich auf dich gewartet. Jetzt vergeht mir die Lust am Spielen. Sprich ein letztes Gebet und verabschiede dich von dieser Welt.“
Denk nach! Hast du abgeschlossen? Ja oder nein? Sie schloss kurz die Augen und dachte an den Moment, als sie das Haus verließ. Nein, ich habe nicht abgeschlossen. Sie hatte ja noch nicht einmal einen Haustürschlüssel dabei. Erleichtert über diese Erkenntnis ging Runa drei Stufen zur Haustür hinauf, trat in die Eingangshalle und verschloss die Tür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in ihre Hosentasche. Den schweren weinroten Vorhang, der eigentlich nur als Schmuck die Tür einrahmte, zog sie zu. Er ließ sich nicht wie ein einfacher Vorhang ziehen. Der Stoff lag schwer in ihren Händen und jede Falte des Vorhangs, die Runa ausei- nanderzog, gab eine muffige Staubwolke frei. Es roch nach jahrhunderte altem Leben, wel- ches sich aus seinem Gefängnis befreite.
Der Staub und der Gestank riefen bei ihr einen Husten- und Würgereiz hervor. Sie betrachtete ihr Werk. Was tue ich eigentlich hier? Als ob der Vorhang verhindere, dass jemand ins Haus gelangen könnte. Wer rein will, findet wohl einen Weg. Aber irgendwie fühle ich mich durch ihn beschützt- mein Torwächter. Falls jemand durch die Eingangstür kommt, erliegt er mit Sicherheit ebenfalls einem Hustenreiz wie ich. Dann werde ich den Eindringling wohl bemer- ken.
Rechts der Haustür befand sich die Tür zur Bibliothek, sie war geschlossen. Schräg gegenüber blickte Runa durch die geöffnete Küchentür. Sie konnte einen Teil der Eichenschränke in der Küche sehen. Außerdem einen umgekippten Schemel, der die Tür daran hinderte sich zu schließen. Runa war kalt und sie hatte Durst. Sie ging in die Küche und sah Feras und Arons zerbrochenen Teetassen auf dem Boden liegen. Die Scherben verteilten sich auf dem ganzen Küchenboden. Der Tee, den sie noch in ihren Tassen hatten, war inzwischen in merkwürdigen Gebilden auf dem Boden eingetrocknet.
Gegen ihre Tränen ankämpfend hob das Mädchen die umgeworfenen Möbel auf und beseitigte die Scherben. An der Waschschüssel hing noch ein Lappen, den sie in einen Bottich mit Wasser tauchte und damit die Teeflecken wegwischte. Sie war so müde, erschöpft und kraftlos. Sie ließ sich auf die Küchenbank sinken und dachte an das, was sie heute alles gese- hen hatte.
Ich begreife es nicht. Was ist nur geschehen? Die Erinnerung an die vielen abgebrannten Häuser erinnerte sie daran, dass sie selbst nach Rauch stank und überall Schmutz an sich kleben hatte. Ihr Gesicht fühlte sich klebrig an, ihre Hände waren so dunkel vom Erdreich gefärbt, dass man meinen könnte, sie hätte ihre Hautfarbe gewechselt. Ihre grüne Hose war mit braunen Flecken eingefärbt und ihr graues Hemd roch nach Schweiß und Rauch. Ihre Haare, die sie zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, hatten sich größtenteils aus ihm ge- löst. In verklebten Strähnen hingen sie an ihr herunter und schoben sich vor ihr Gesicht.
Runa fühlte sich wie ein Schwein, was sich im Schlamm gesuhlt hatte. Sie konnte sich so nicht mehr ertragen. Sie benötigte ein Bad. Seltsam, dass ich das jetzt denke. Obwohl mein Leben zerstört ist, geht es irgendwie weiter. Ich lebe noch, also kann ich auch ein Bad neh- men.
Der Gedanke an ein heißes, wohltuendes Bad weckte die Lebensgeister in ihr. Sie sprang förmlich von der Bank auf, ging zur Feuerstelle und legte ein Feuer an. Anschließend nahm sie den Wassereimer vom Haken an der Küchentür und ging zum See. Es dauerte nicht mehr lange bis zum Einbruch der Dunkelheit. Runa musste sich mit dem Wasserholen beeilen. Während sich das erste Wasser im Kessel erwärmte, entzündete sie Kerzen und eine Feuer- schale im Waschraum, damit sie es gemütlich beim Baden hatte. Die Prozedur, Wasser holen und es erwärmen, schien für das Mädchen kein Ende zu nehmen. Nachdem die hölzerne Wan- ne gefüllt war, holte sie noch einige Eimer kaltes Wasser, damit das kochende Badewasser sich abkühlen konnte.
Sorgsam verschloss Runa die Tür zum Garten, goss sich mit dem letzten Rest des heißen Wassers ihren Tee auf und erstickte das fast abgebrannte Feuer in der Feuerstelle. Die woh- lige Wärme, die ihr beim Betreten des Waschraumes entgegen kam, riefen angenehme Erin- nerungen in ihr hervor. Sie stellte ihren Teebecher auf einen kleinen Schemel neben der Bade- wanne und gab noch Kräuter in ihr Badewasser. Ihr geblümtes, flauschiges Badetuch lag griffbereit vor der Wanne und ein Waschtuch hing am Wannenrand. Eine kleine Holzschale mit einem Stück Lavendelseife stellte sie mit auf den Schemel. Runa legte ihre Kleidung ab und löste ihr ledernes Haarband. Beim Einsteigen in die Wanne musste sie ihre Haare festhal- ten. Einmal hatte sie dies vergessen und wäre fast auf ihren Haaren ausgerutscht, da sie bereits so lang gewachsen waren, dass sie ihre Fersen berührten.
Runa ließ sich soweit ins Wasser gleiten, dass sich ihr Kopf unter Wasser befand und rutschte dann wieder ein Stück aus dem Wasser hinaus. Das Badewasser war nicht kochend heiß, aber doch noch so heiß, dass ihre Haut prickelte und eine Gänsehaut hervorrief. Immer wieder atmete sie den wohltuenden Geruch der Kräuter ein und trank ihren Tee dabei. Der Minztee wärmte sie innerlich und so langsam kam das Gefühl zurück, wieder ein Mensch zu sein und kein sich suhlendes Schwein.
Lavendelseife mochte sie besonders gern zum Waschen, ihr Geruch erinnerte sie an den Som- mer. Sie stellte sich die lilafarbenen Blüten auf Jacobs und Ennas Feld vor, ihre Lieblings- farbe. Enna stellte die Lavendelseife selbst her und verkaufte sie auf dem Markt, aber Runa bekam immer ein Stück geschenkt, wenn sie eins aufgebraucht hatte. Wenn sie dieses letzte Stück Lavendelseife aufgebraucht hatte, würde sie kein neues mehr von Enna bekommen. Nachdem sie ihren Körper mehrmals gründlich geschrubbt hatte, überkam sie eine so große Müdigkeit, sodass sie in der Badewanne einschlief.
Als Runa aus ihrem Schlaf erwachte, spürte sie einen Kälteschleier auf ihrer Haut. Das Wasser war inzwischen kalt geworden. So lange kann ich doch nicht geschlafen haben. Die fast abgebrannten Kerzen und die erloschene Feuerschale zeugten davon. Draußen war es noch dunkel, aber es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis der Tag anbrach. Müde stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab, wickelte ihr Badetuch um ihren Körper, löschte die brennenden Kerzen und ging in ihre Schlafkammer. Im Tuch eingewickelt legte sie sich unter ihre Decke und schlief weiter.
Читать дальше