Vor einem Jahr ging sie wie so oft schon zum See und machte dort die schrecklichste Erfah- rung ihres Lebens. Der See hatte ihr ihre Eltern genommen. Erst dachte sie, ihre Eltern hätten sich ein komisches Spiel überlegt, so wie sie dort auf der Wasseroberfläche trieben. Aber dann fragte sie sich, warum sie dies tun sollten. Sie mochten keine Spiele, sie mochten es nicht, sich um ihr Kind zu kümmern. Runa hatte sich schon oft gefragt, ob sie sie überhaupt registrierten. Das Zusammenleben mit ihren Eltern war für sie kein Familienleben. Ihre Mut- ter und ihr Vater lebten ein Leben, als ob es sie gar nicht gäbe. Sie war fast immer alleine und auf sich gestellt.
Mit einem mulmigen Gefühl ging das Mädchen ans Ufer des Sees. Sie sprach ihre Eltern an, sie könnten aus dem Wasser kommen, denn es wäre nicht komisch. Das verwirrte Mädchen konnte sich nicht entsinnen, jemals Spiele mit ihnen gespielt zu haben, das wollte sie jetzt auch nicht mehr. Sie sei jetzt dreizehn Jahre alt, also zu alt für solche Spiele.
Da erst bemerkte sie die rote Färbung des Wassers und auch, dass ihre Eltern bekleidet auf dem Wasser trieben. Eigentlich hätte sie schreien müssen, aber sie konnte nicht. Der Schock lähmte diese natürliche Reaktion.
Sie fragte sich, was sie tun solle und warum ihr niemand half. Runa konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange sie dastand und ihre Eltern ansah. Sie weiß nur noch, dass sie ins Wasser ging und ihre Eltern aus dem Nass herauszog.
Dieser Albtraum darf sich nicht noch einmal wiederholen. Wie gebannt starrte Runa auf den See, ob sich der Abgrund vor ihr erneut öffnete. Der See zeigte keinerlei Veränderung. Ihr schien er so zu sein, wie sie ihn noch gestern gesehen hatte. Das Wasser bewegte sich in sanf- ten Wellen, angetrieben vom Wind, der sein Rauschen aus dem Wald zu ihr herüber wehte. Schreiend und lachend zugleich sackte Runa zusammen und landete auf ihren Knien im ho- hen Gras. Im ersten Moment war sie erleichtert, weil Fera und Aron nicht leblos auf dem Wasser trieben und dann doch wieder panisch, weil sie sie nicht gefunden hatte.
Ich muss sie finden. Tränen überströmt stützte Runa sich auf ihren Händen auf, stand auf, atmete dreimal tief durch und blickte sich langsam in ihrer Umgebung um. Ich muss nach- denken, ruhig bleiben. Wo könnten sie sein? Was könnte passiert sein? Während Runa ihren Fragen nachging, drehte sie sich dabei mehrmals im Kreis und betrachtete dabei die alten Ei- chen und Kastanien, die das Grundstück wie einen Ring umgaben, als ob ihr Zuhause eine Welt für sich sei.
Ihre nächsten Nachbarn, das alte Ehepaar Birka lebte in ihrer Nähe. Vielleicht brauchten sie dringend Hilfe und Aron und Fera hatten keine Zeit, eine Nachricht zu hinterlassen oder sie zu wecken. Aber was das Chaos zu bedeuten hatte, war ihr nicht verständlich. Man wirft doch keine Sachen durch die Gegend, wenn man um Hilfe gebeten wird. Was ist nur passiert?
Wenn Runa Abwechslung von ihren Büchern brauchte und die Natur genießen wollte, strebte sie gerne Spaziergänge an, die stets an Birkas Haus vorbeiführten. Sie mochte die alten Men- schen sehr gerne. Jacob und Enna waren freundliche und gütige Menschen. Enna hatte immer einen liebevollen Blick, der ihre blauen Augen strahlen ließ wie ein Ozean. Ihre kleine spitze Nase, auf der sie eine Brille trug, passte genau in ihr liebevolles Gesicht. Nur die schneewei- ßen Haare und die faltige Haut erinnerten daran, wie alt sie eigentlich war. Obwohl sie bereits über achtzig Jahre alt war, war sie so lebendig wie ein Kind.
Jacob war für Runa wie ein altes, geliebtes Buch, was man nur anschauen brauchte, um sich verstanden zu fühlen. Er war recht wortkarg und oft mürrisch, aber er war genauso liebens- wert wie Enna. Man musste Jacob einfach kennenlernen, um dies zu verstehen. Er war kaum älter als seine Frau, wirkte aber um so viele Jahre älter und gebrechlicher als sie. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, verfolgte Jacob seine Enna mit seinen großen braunen Augen so liebe- voll, dass man das Gefühl hatte, seine ganze Liebe für seine Frau stecke in einem einzigen Blick.
Ohne zu wissen, was wirklich geschehen war, ließ Runa das Gefühl der beklemmenden Angst nicht los. Sie musste Gewissheit haben. Mit noch zittrigen Beinen und pochendem Herzen be- schloss sie sich auf den Weg zu ihren Nachbarn zu machen. Nach wenigen Augenblicken hat- te sie den Baumring durchbrochen und blickte in die Ferne, mit der Hoffnung, ein Lebens- zeichen von Aron und Fera ausmachen zu können. Bereits nach einem kurzen Stück Weg er- reichte sie die Abbiegung, die zum Haus der Birkas führte.
Als Kind befand Runa es für äußerst wichtig, dass jeder der an dieser Gabelung vorbei käme, wisse, zu wem dieser Weg führte. In liebevoller Arbeit hatte sie mit Jacob ein Straßenschild gezimmert, das sie selbst bemalt und beschrieben hatte: HIER GEHT ES ZUR LIEBEN ENNA UND ZUM LIEBEN JACOB- HAUS NR.1 AM STADTRAND. Der Schriftzug ist bereits verblasst, aber noch gut leserlich, nur das Baumgrün, wie Runa die selbst gemischte Farbe nannte, war über die Jahre völlig abgeblättert.
Den Weg, den Runa stets in kurzer Zeit hinter sich gelassen hatte, schien ihr dieses Mal endlos. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den sie Richtung Haus machte, auf der Stelle zu laufen und es nie erreichen zu können. Je näher sie dem Haus kam, desto ruhiger erschien ihr die Umgebung. Kein Vogelgezwitscher oder Kindergeschrei war zu hören oder Bauern, die fröhlich pfeifend die Ernte auf den Feldern einholten- nichts zu hören. Solch eine Stille hatte sie unterwegs noch nie erlebt.
Das Pochen ihres Herzen nahm zu und Übelkeit stieg in ihr hoch, so stark, dass sie be- fürchtete, sich übergeben zu müssen. Mit aller Macht kämpfte sie dagegen an. Sie hatte nur diesen einen Gedanken: Was ist in Dorfland passiert? Um Ihre Übelkeit zu vertreiben, atmete Runa einige Male tief ein und aus und da roch sie es- Feuer. Von Panik erfasst nahm sie all ihre Kraft zusammen und rannte los. Sie rannte auf den Hügel, der für sie eine Abkürzung war, anstatt um das Maisfeld herumzulaufen. Auf der Anhöhe blieb sie stehen und musste mit Schrecken ansehen, dass das kleine Häuschen von Jacob und Enna abgebrannt war. Eine klei- ne Rauchsäule stieg aus den Trümmern empor und verteilte sich triumphierend über ihr Machwerk.
Hektisch schaute sie sich um und schrie nach den beiden. Runa rannte den Hügel hinab, stolperte und schürfte sich den linken Arm auf. Die Wunde entließ ein blutendes Rinnsal von sich, das ihr den Arm entlang floss und in ihrem Ärmel verschwand. Ohne sich weiter um ihre Verletzung zu kümmern, stand sie auf und lief zum Gartenzaun, der den Krieg des Feuers wie ein Wunder überlebt hatte. Runa bot sich ein groteskes Bild, eine eingerahmte Katastrophe.
Tränen liefen ihr über die Wangen, die in ihrem Hemd versickerten. Runa stand an der Gar- tenpforte und hielt diese umklammert, als sei es ihre Aufgabe, sie vor dem Umfallen zu schüt- zen. Ohne es zu bemerken, verstärkte sie den Druck ihrer Hände und die Rillen des Holzes zeichneten sich bereits in ihren Händen ab. Nicht auch noch Jacob und Enna. Vielleicht konn- ten sie sich noch mit Fera und Aron in die Stadt retten. Wo sollten sie sonst alle sein? Ohne sich noch weiter umzuschauen, verließ Runa den Schreck geweihten Ort und begab sich auf den Weg in die Stadt.
Nach wenigen Schritten konnte Runa bereits den Stadtturm mit der kleinen gusseisernen Glocke erblicken, die Harro, der Schmied, gegossen hatte. Der Stadtturm hatte bereits viele hundert Jahre ein Glocke besessen, aber nach einem Überfall vor rund zehn Jahren brauchte der Turm einen neuen Gefährten an seiner Seite. Der Stadtturm ohne seine Glocke wäre für die Dorfländer so, als ob ihnen die Luft zum Atmen fehle. Dieser Turm war ihr Wahrzeichen, ihre Identität.
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