Das Wasser im Kessel war größtenteils verdampft. Eine kleine Pfütze bedeckte den Boden des Kessels und reichte noch so gerade für einen Becher Minztee. Zwei Stängel Minze hingen noch am Kräuterrad unter der Decke. Wie passend. Für morgen früh habe ich noch Minze übrig. Runa schrieb auf ihre Liste: MINZE SAMMELN UND EINEN WINTERVORRAT ANLEGEN und unterstrich ihren Hinweis zweimal. Ein Tag ohne Minztee wäre unvorstellbar. Anschließend schnitt sie sich ein Stück Brot ab, holte Käse und Obst aus der Vorratskammer und ließ sich ihr Abendmahl schmecken.
Das Knistern und Knacken des Holzes im Ofen war das einzige Lebendige, was ihr Gesell- schaft leistete. Beim Essen blickte sie auf ihren Tag zurück und war stolz auf sich, dass sie etwas Sinnvolles geleistet und einen kleinen Plan hatte, der ihr Überleben unterstützen konnte. Runa stellte fest, dass sie eine andere, neue Erfahrung gemacht hatte, sie hatte nicht eine Seite gelesen.
Seit sie mit vier Jahren Lesen gelernt hatte, war kein Tag in ihrem Leben vergangen, ohne ge- lesen zu haben- bis heute. Sie hatte es gar nicht vermisst. Das Mädchen mochte nicht mehr nachdenken und ein Gähnen kündigte ihre Müdigkeit an. Müde und erschöpft löschte Runa die Feuer in der Küche und ging schlafen.
Früh am Morgen des nächsten Tages sammelte Runa im Garten Minze. Ihren Ertrag teilte sie in zwei Hälften auf. Einen Teil für den täglichen Gebrauch und den anderen zum Trocknen des Wintervorrates. Heute wollte sie auch mit der Getreideernte beginnen. Im Schuppen stand der Tragekorb von Fera, den sie sich für Besorgungen auf den Rücken schnallte. Den wollte sie sich holen und Arons Sense, die ihm ein befreundeter Bauer einst schenkte, weil er ihm bei der Ernte aushalf. Proviant für den Tag wickelte sie in ein erdfarbenes Tuch ein und füllte einen Wasserschlauch am Brunnen auf. Sie wollte jetzt keine Zeit mehr verlieren und später auf dem Feld ihr Morgenmahl einnehmen.
Während Runa den Baumring durchschritt und auf die Außenstraße trat, wurde ihr ganz mul- mig. Ihr Herz raste. Das Weizenfeld lag in Sichtweite. Sie musste gar nicht weit gehen, aber das kurze Stück Weg zu beschreiten, flößte ihr Angst ein. Hinter den Bäumen, dort wo ihr Haus verborgen lag, schien sie sicher zu sein. Bis jetzt wurde sie von niemandem entdeckt. Das ängstliche Mädchen verweilte noch einen Moment auf der Stelle und lauschte den Geräu- schen, die sie einhüllten. Sie konnte nichts Besonderes vernehmen. Der Wind spielte sein Lied in den Bäumen, die Vögel flogen umher und zwitscherten sich zu.
Ein Igel spazierte an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Der Igel erschien Runa noch recht klein. In seinen graubraunen Stacheln hatten sich gelb verfärbte Lindenblätter verfangen. Die Dreizehnjährige musste bei seinem Anblick lächeln. Sie mochte Tiere sehr, besonders so niedliche, wie diesen kleinen Kerl.
Ich bin nicht allein. Das Leben geht weiter. Sie ging in die Hocke und besah sich den Igel ge- nauer. Das Stacheltier unterbrach seinen Spaziergang, reckte seine spitze Schnauze herum, warf einen Blick auf sein Gegenüber, schnüffelte kurz und ging seiner Wege. „Ich wünsche dir, dass du über den Winter kommst, damit wir uns vielleicht noch mal begegnen, du kleiner Igel. Ich heiße Runa und wohne hinter den Eichen und Kastanien. Wenn du magst, kannst du gerne bei mir überwintern. Bei mir hättest du es gut.“ Runa hatte nicht wirklich damit gerech- net, eine Antwort von dem Tier zu bekommen. Aber er blieb noch mal stehen, schaute zurück zu Runa und passierte weiter die Straße, um auf die andere Seite zu gelangen.
Der kleine Igel erschien dem Mädchen so mutig. Er spazierte hier einfach in der Gegend herum. Es störte ihn überhaupt nicht, dass sie da stand. Er ging einfach an ihr vorbei. Wenn du das kannst, dann kann ich das wohl auch. Mit der Sense in der Hand und dem Korb auf dem Rücken zog sie weiter zum Weizenfeld. Um in der Nähe des Hauses zu bleiben, beschloss Runa direkt an der ersten Feldecke, auf die sie zuging, mit ihrer Arbeit zu beginnen. Den Korb legte sie im Schatten unter einer Blutbuche ab, die den Wegesrand wie ein Wächter bewachte.
Sowie Vorsicht mit dem Beil geboten war, galt dies auch für die Sense. Mit langsamen Bewegungen hieb sie die ersten goldenen Halme ab. Der erste Hieb war ein direkter Erfolg, im Gegensatz zum Holzhacken. Das Schwingen der Sense fühlte sich viel leichter an und mit jedem Hieb hatte sie eine gute Hand voll Ähren beisammen. Runa arbeitete stundenlang, ohne Pause. Sie war so überwältigt von dem, was ihr gelang. Am Ende ihrer Arbeit hatte sie einen so hohen Ertrag erzielt, dass sie hätte drei Körbe füllen können. Ein Drittel der Halme ver- staute sie im Korb, die anderen stapelte sie und würde sie später abholen. Aber erst wollte sie etwas essen, denn das hatte sie sich jetzt verdient.
Ihre erste Ladung Halme legte sie im Schuppen an eine Wand. Dort hatte sie heute Morgen vor ihrem Aufbruch Platz dafür geschaffen. Beim zweiten Gang zum Feld zögerte sie nur kurz, die Straße zu betreten und beim letzten ging sie zielstrebig los, um das letzte Drittel Ähren abzuholen. Nachdem ihre Ernte gut verstaut war, nahm sie einen der Obstkörbe, las die Äpfel und Birnen aus dem Gras im Garten auf und legte im Schuppen einen Vorratsspeicher an. Das gehörte zu ihrem Plan. Ihre neuen Aufgaben gefielen ihr und lenkten sie von den bö- sen Geschehnissen ab, obwohl gerade sie dafür gesorgt hatten, eigene lebenswichtige Ent- scheidungen zu treffen.
Nach getaner Arbeit war ein Bad im See sehr erfrischend. Die Arbeit hatte sie sehr hungrig gemacht und sie genoss ihr langes und ausgiebiges Abendmahl. Kaum hatte sie ihr Essen be- endet, spürte sie eine Sehnsucht in sich aufsteigen. Diese brachte sie eigentlich nur damit in Verbindung, wenn sie bei Olef ein neues Buch sah, was sie unbedingt haben wollte. Eigent- lich war es nicht die Sehnsucht nach einem neuen Buch, sondern danach, ein Buch in die Hand zu nehmen. Heute hatte sie noch nicht einmal eins in den Händen gehalten. So durfte es nicht weiter gehen.
Mein Tagesablauf hat sich geändert, okay. Ich habe ja nicht von morgens bis abends gelesen, sondern auch meine Pflichten erfüllt. Aber gar nicht mehr lesen? Das würde ich nicht über- leben. Es ist ja auch nicht so, dass ich keine Zeit mehr dafür hätte. Es liegt wohl eher am so genannten Buch in meiner Bibliothek, was unschuldige Menschen verschlingt.
Runa kam ein Geistesblitz. Sie ging noch einmal in den Schuppen und nahm die Sense und das Beil mit ins Haus. Na warte, du Ungetüm, dir werde ich es zeigen, mich aus meiner Bibliothek zu vertreiben . Ich werde dich töten, wenn es sein muss. Niemand drängt sich zwi- schen mich meine Bücher und schon gar nicht… ein Buch. Auch kein altes und schönes Buch. Ich werde meine Freunde vor dir… Buch beschützen.
Aufgebracht stampfte das bewaffnete Mädchen die Stufen zur Bibliothek herunter. Mutig, wie sie selbst fand und sagte sich dabei, sie sei kein Angsthase. Auf der letzten Stufe hielt sie inne und starrte auf die Stelle, an der sie das Kissen mit dem darunter verborgenem Buch zuletzt gesehen hatte. Das Kissen lag nicht mehr auf dem Boden, sondern wieder auf der Kaminbank. Das Buch jedoch lag geöffnet auf dem Boden. Wie konnte das sein? Ich bin allein im Haus. Bevor sie das Grundstück verließ, hatte sie alles abgeschlossen und nachgeprüft, ob auch wirklich alle Türen verschlossen waren. Es gab keine Einbruchspuren.
Gestern hatte sie mehre Versuche unternommen das Buch zu öffnen und war daran gescheitert. Jetzt lag es plötzlich geöffnet vor ihr. Runa ließ hektische Blicke in alle Ecken des Raumes wandern, aber da war niemand. Eigentlich wollte sie eine mutige Kriegerin sein, dem Buch den Kampf ansagen und es notfalls auch töten. Das geöffnete Buch hatte sie überrumpelt.
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