Völlig verdutzt blickte Runa zurück zum Buch und sah direkt in Henos Augen. Gereizt fragte dieser: „Mit wem hast du da gerade gesprochen?“ Bevor das Mädchen antworten konnte, kam das braune, runde Etwas mit der spitzen Nase zum Buch gelaufen und übernahm das Wort für sie: „Hallo Heno. Lange nicht mehr gesehen, was?“
Der Hutling beugte sich weiter vor, als ob er beabsichtige, aus dem Buch herauszuklettern und fragte: „Bronto? Bronto, bist du das?“ „Ja, natürlich bin ich es“, antwortete dieser. Runa fand ihre Stimme wieder und sagte verwundert: „Du bist ja ein sprechender Igel.“ „Ja, klar bin ich ein sprechender Igel. Oder sehe ich etwa so aus wie ein Hutling?“, fragte Bronto. „Nein, ich denke nicht“, stotterte die Überraschte. „Gut, dann wäre dies ja geklärt“, sagte der Igel und schaute wieder zu Heno in das Buch.
„Also, wenn ich im Sommerwald bin und du bei R-U-N-A, einfach Runa, dann bedeutet das, dass… oh nein“, wimmerte der Hutling. „Doch, ganz genau das bedeutet es, Heno“, antwortete Bronto traurig. „Könnte mich mal jemand aufklären, warum ich im Besitz eines lebendigen Buches bin, ich mit dem Inhalt dieses Buches reden kann und dieser mir so ganz nebenbei Verletzungen zufügt? Ach ja. Und warum ein sprechender Bronto- Igel mit mir und dem Inhalt dieses Buches sprechen kann- und das alles in meiner Bibliothek?“, forderte Runa die beiden zu einer Antwort auf. Bronto erklärte ihr nur: „Ich bin wieder hier, weil du mich zum Überwintern eingeladen hast.“ Dann schwieg er.
Bronto und Heno hüllten sich in Schweigen und sahen Runa an, als ob sie von dem Mädchen durch ihre Fragerei zum Schweigen verdammt wurden. Nach einer Weile ertrug Runa die Stille nicht mehr und fragte: „Würde mir bitte jemand antworten? Warum ist nichts mehr so, wie es einmal war?“ Bronto räusperte sich mehrmals und begann erneut zu sprechen: „Weißt du R-U-N-A, einfach Runa, das ist nicht so einfach zu erklären. Wichtig ist jetzt nur, dass du „Die Waldgeschichten“ öffnen konntest und wir diejenigen sind, denen du zuerst begegnet bist.“
Immer noch unwissend sagte sie: „Das beantwortet in keiner Weise meine Fragen. Und ers- tens: Ich habe das Buch nicht geöffnet, denn es wollte sich nicht von mir öffnen lassen. Es hat mich sogar angegriffen. Und zweitens: Mein Name ist nur Runa.“ „Sagtest du eben nicht zu Heno, er sei einfach Runa?“, fragte Bronto verwirrt. „Also noch mal, ich heiße weder einfach Runa, noch nur Runa. Mein Name ist Runa“, schrie sie genervt.
Der Igel zuckte zusammen, weil Runas Atem beim Schreien ihn doch irgendwie nervös mach- te. Er forderte sie daher auf, sie solle doch bitte nicht so schreien, schließlich hätte sie ja das Verwirrspiel mit ihrem Namen betrieben. „Wie bitte?“, entfuhr es ihr überrascht. „Na ja, egal. Es tut mir Leid. Ich wollte euch nicht anschreien“, entschuldigte sie sich. „Ich weiß gerade gar nicht, was mit mir und meinem Leben geschieht. Meine Familie, Freunde, Nachbarn, alles Leben in meiner Stadt ist ausgelöscht worden. Es gibt niemanden mehr außer mir in Dorfland. Irgendjemand oder etwas hat Dorfland vernichtet und weiß von meinem Überleben. Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen soll, und auf einmal taucht ihr bei mir Zuhause auf. Bronto, du bist ein sprechender Igel. Heno, du bist ein Wesen aus einem lebendig gewordenem Buch und sprichst ebenfalls mit mir. Wie soll ich das begreifen? Sagt es mir, bitte! Sonst verliere ich noch den Verstand“, flehte das verzweifelte Mädchen um eine Antwort.
Heno setzte sich auf einen Baumstumpf und schaute Bronto nickend an. „Also Runa“, begann der Hutling. „Es ist so, du hast das Buch geöffnet. Natürlich nicht mit deinen Händen. Das wäre unmöglich gewesen, so kann niemand das Buch öffnen. Du hast es mit deinem Herzen geöffnet.“ Runa zog die Stirn kraus und schaute Heno ungläubig an. Sie wollte den Igel nicht unterbrechen, da sie unbedingt wissen wollte, was er ihr zu erzählen hatte und ließ ihn weiter erklären. „Du fragst dich jetzt sicher, wie das vonstatten gegangen ist. Ich erkläre es dir.“
Runa fragte sich, ob er wohl ihre Gedanken lesen könne und hörte weiter zu. „Das Buch muss irgendwie mit deinem Herz in Berührung gekommen sein. Es hat die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle der Menschen zu spüren. Nur jemand, der eine aufrichtige, unendliche Liebe zu Büchern hat und weiß, welchen Wert ein einzelnes Buch besitzt, ist dazu befähigt, „Die Waldgeschichten“ zu öffnen. Du musst so jemand sein. Ich muss zugeben, dass ich überrascht bin, dass ein kleines, freches Mädchen dieser Jemand sein soll.“ Um sich seine Worte bestä- tigen zu lassen, wendete sich der Waldbewohner an den Igel: „Das Buch hat sich noch nie geirrt. Nicht wahr, Bronto?“ Der kleine Vierbeiner nickte zur Bestätigung.
Heno hat Recht. Ich liebe Bücher über alles. Es gibt nichts Schöneres für mich als zu lesen, mit meinen liebsten Freunden, meinen Büchern Zeit zu verbringen. Verleiht diese innige Liebe mir wirklich Macht? Macht, ein verzaubertes Buch zu öffnen? Ich bin eine Büchernärrin und ich weiß, viele Geschichten entspringen nur der Fantasie irgendeines Erzählers. Dies kann gerade nur ein Traum sein. Kann man in Träumen logisch denken?
„Nein, das kann man nicht, Liebes. Alles geschieht gerade wirklich. Es ist die Realität“, er- tönte eine Stimme in ihrem Kopf. Da ist sie ja wieder diese schöne, melodische Stimme. Ich kann sie wieder in meinem Kopf fühlen. „Nein, das tust du dieses Mal nicht“, erwiderte die Stimme. „Du hörst mich mit deinen entzückenden Ohren.“ Runa glaubte, von allen guten Geistern verlassen worden zu sein. Die Stimme konnte ihre Gedanken lesen und sprach erneut zu ihr: „Hallo Runa. Liebes, schau doch noch mal zu Heno. Ich stehe neben ihm. Ich bin He- nora, Henos Frau und nicht einfach nur eine Flüsterstimme.“
Ein wenig enttäuscht blickte das Mädchen wieder zu dem kleinen Hutling. Neben ihm sah sie einen zweiten Hutling und dieser winkte ihr zu. Henora richtete erneut das Wort an Runa: „Bisher war ich nur eine Stimme für dich, aber jetzt kannst du mich in meiner wahren Gestalt erkennen. Ich war so gespannt darauf, dich endlich kennen zu lernen. Olef hat mir schon so viel von dir erzählt.“ Erstaunt fragte Runa: „Du kennst Olef?“ „Aber natürlich. Er weiß um die Bedingungen des Buches. Bei unserem letzten Gespräch verabschiedete er sich mit den Worten, bei der nächsten Buchöffnung bekäme die wundervollste und außergewöhnlichste Büchernärrin Einblick in „Die Waldgeschichten“. Und da du das Buch geöffnet hast, musst du Runa, die Büchernärrin, sein“, erklärte ihr die Hutlingfrau. „Nenn mich bitte nicht Runa, die Büchernärrin. Das könnte bei gewissen anwesenden Gestalten zu Verwirrungen führen. Nenn mich Runa“, bat Runa Henora. Verständnisvoll nickte Henora ihr zu und sagte: „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“
„Willst du etwa damit sagen, du wärst nicht auf ihr Namenverwirrspiel reingefallen bist, meine liebe Frau?“, rief Heno empört. „Genau, mein lieber Mann. Das Mädchen hat doch ganz deutlich gesagt, sie heiße Runa- einfach Runa“, klärte ihn seine Frau auf. „So nannte ich sie doch, einfach Runa“, protestierte der aufgebrachte Hutling. Runa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war lustig anzusehen, wie sich das Hutlingpaar unterhielt. Für einen Moment glaubte sie, durch ein Puppenspiel unterhalten zu werden.
„Meine lieben Freunde, ich möchte euch ja nur ungern unterbrechen. Aber ich denke, wir ha- ben jetzt Wichtigeres vor, als uns über den Namen des Mädchens zu streiten“, unterbrach Bronto das Paar. Runas Grinsen verebbte. Die Waldwesen verstummten und blickten beide zu dem Mädchen.
Ernst und einen starren Blick auf Runa gerichtet forderte Heno: „Um dir sagen zu können, was geschehen ist, müsstest du uns erst einmal erzählen, was in deiner Welt, in Dorfland, pas- siert ist. Und warum du denkst, alleine zu sein. Wenn das Buch „Die Waldgeschich- ten“ geschlossen ist, haben wir keinen Einblick in andere Orte, außerhalb der „Waldgeschich- ten“. Und es ist noch nie vorgekommen, dass ein Bewohner des Buches es verlassen konnte, so wie Bronto. In der letzten Zeit haben alle im Sommerwald Veränderungen gespürt, dunkle Vorahnungen, aber niemand wusste diese Zeichen zu deuten. Wir ahnten nur, irgendwo wür- de ein großes Unheil geschehen.“ Beeindruckt von Henos sprachlichem Wandel erzählte Ru- na den Dreien die Geschichte in allen Einzelheiten. Und sie ersparte ihnen keins der grausa- men Details.
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