Die ersten Tage schwiegen sie die meiste Zeit. Zum einen lag es daran, dass die Kinder mit zusammengebissenen Zähnen ihre schmerzenden Muskeln ertrugen, sie waren das viele Reiten nicht gewohnt. Zum anderen überkam sie eine gewisse Befangenheit. Die Kinder waren bedrückt, ja, Bajan selbst war es auch. Sie alle hingen noch an den Ereignissen, die sie gerade erst hinter sich gelassen hatten. Bajan wusste einfach nicht, wie er sie trösten oder auch nur mit ihnen reden sollte. Stets war er daran gewöhnt gewesen, Currann um sich zu haben. Mit dem jüngeren Sohn der Königin tat er sich wesentlich schwerer. Und mit dem stummen Mädchen wusste er gar nichts anzufangen, er konnte sich nicht einmal mit ihm verständigen. Dennoch beobachtete er es aufmerksam, denn es war etwas Besonderes an der Kleinen.
Er dachte an den Abend zurück, als Leviads Frauen die Mädchen fortführten, um sie zu entkleiden und zu baden. Wie verbissen sich die Kleine gewehrt hatte, von ihnen angefasst zu werden, und er erinnerte sich an Phelans vehementes Einschreiten. Er hatte die Frauen geradezu hinausgescheucht, wütend und mit blitzenden Augen.
Althea hatte sich schließlich um das Mädchen gekümmert, obwohl sie sich selbst vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, während Phelan aufpasste, dass sich ihnen niemand näherte. Dennoch hatte Bajan einen Blick auf Noemis Rücken erhascht und die vielen, hässlichen Narben gesehen. Seitdem war ihm bewusst, dass die drei wesentlich mehr verband als bloße Freundschaft. Die Kleine hatte etwas, das sämtliche Beschützerinstinkte in einem wachrief, nur war es ihm noch nie aufgefallen, weil er sie bisher kaum zu Gesicht bekommen hatte. Er wusste nur, dass sie aus dem Dienstgefolge des Palastes stammte, mehr jedoch nicht. Phelan jedenfalls ließ sie nicht aus den Augen, und sie selbst klammerte sich geradezu an ihn. Dennoch musste sie beträchtlichen Mut besitzen, denn sie hatte es geschafft, Currann und seine Kameraden zu alarmieren, als die Wachen Althea geholt hatten.
Nachts schliefen die Kinder stets dicht aneinandergedrängt. Wären sie ein paar Jahre älter gewesen, Bajan hätte sich ernsthaft Gedanken gemacht, aber so hatte es etwas Rührendes. Oft genug erwachte Althea schreiend aus einem furchtbaren Traum, und Bajan war dankbar, dass Phelan es stets schaffte, sie zu beruhigen. Er selbst hätte nicht gewusst, wie.
Trotz ihres offensichtlichen Bedürfnisses nach Nähe und in dem Bewusstsein, dass sie mit Sicherheit unter Schock standen, war Bajan klar, dass er auf Dauer die anfallenden Aufgaben nicht allein bewältigen konnte. Sie mussten mit anfassen, schon allein für die Nachtwache brauchte er Hilfe.
Bajan hatte schon immer gern unterrichtet, war mehr in der Heerschule zugegen gewesen, als es für einen Heerführer üblich war. Lohn war ein besonders starker Rückhalt unter den jüngeren Soldaten. Fast alle der Vereidigten waren seine ehemaligen Schüler oder Kameraden. Also beschloss er das zu tun, was er am besten konnte: Er teilte den Kindern feste Aufgaben zu. Seine Anweisungen waren etwas barsch und wortkarg, so wie es seine Art war. Hätte er eigene Kinder gehabt, sein Verhalten wäre vielleicht etwas sanfter gewesen, aber so behandelte er sie eben wie seine Schüler. Phelan und Althea störte es nicht, sie kannten ihn nicht anders. Als er jedoch auch Noemi nicht ausließ, hob Phelan zum Protest an. Aber die Kleine schien ihm irgendwie mitzuteilen, dass sie einverstanden war, denn Phelan verstummte augenblicklich.
Bajan runzelte innerlich die Stirn. Wie verständigten sie sich nur? Etwas nagte an seinen Erinnerungen, aber es entglitt ihm wieder. Also sah er genauer hin. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Currann selbst hatte es ihm erzählt, damals, in der Rüstkammer, als sie die Schwerter begutachtet hatten. Die Hände der Kinder bewegten sich ständig, schnell und unauffällig. Sie schwiegen gar nicht, sie redeten, sogar sehr viel.
Bajan wusste nicht, ob er erstaunt oder verärgert sein sollte. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann, dass etwas hinter seinem Rücken vorging. Aber dies war derart faszinierend, dass er ihnen nicht ernstlich böse sein konnte. Er beschloss, behutsam vorzugehen, schließlich hatten die Kinder Schlimmes erlebt, und er wollte ihr Vertrauen gewinnen. Denn er war sich über eines im Klaren: Nur wenn sie zusammenhielten und einander vollkommen vertrauten, konnten sie diese Reise überstehen.
Also sah Bajan in den folgenden Tagen genauer hin. Nach und nach vermeinte er eine Struktur zu erkennen, aber ganz begriff er das Prinzip nicht – es fehlte ihm der Schlüssel, ein Beginn, wo er einhaken konnte.
Eines Abends wagte er den nächsten, entscheidenden Schritt, sich der Kleinen anzunähern. Er schickte Phelan mit einer Aufgabe fort, da der Junge so aufmerksam über Noemi wachte, dass es ohne ihn einfacher war. Dann setzte er sich ans Feuer, Noemi gegenüber, und sah sie fest an. Noemi spürte, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf.
›Ich möchte mich gerne mit dir unterhalten können.‹ Bajan bewegte nur die Lippen, kein Laut drang aus seinem Mund. Für Noemi war es gleich, sie hörte ja nicht. Er sah den abschätzenden Blick der Kleinen auf sich gerichtet. Er merkte, dass sie abwägte, ob sie ihm vertrauen konnte, kein Wunder bei dem, was sie erlebt hatte. Also wartete er einfach ab.
Althea, die bei den Pferden beschäftig war, spürte, dass etwas zwischen den beiden vorging, und sah herüber.
Noemi wandte den Kopf. ›Thea, was denkst du? Soll der Fürst unsere Sprache lernen?‹
Da war er, der Schlüssel. Bajan war sich sicher, dass das erste Wort ›Thea‹ geheißen hatte.
Althea überlegte nicht lange. Sie vertraute Bajan bedingungslos, ja, diese merkwürdige Spannung zwischen ihm und Phelan tat ihr sogar sehr weh. Es war nicht recht, wenn sie Bajan ausschlossen, denn schließlich hatte er alles für sie aufgegeben, seine Stellung, sein Zuhause und Meda und das Kind, das sie erwartete. Wusste er davon? Sie glaubte es nicht, und selbst wenn, er würde es ihnen gewiss nicht sagen, dachte Althea, ließ von den Pferden ab und setzte sich zu den beiden ans Feuer. »Ich finde, Ihr solltet sie lernen, damit Ihr Noemi versteht«, sagte sie laut und zeigte gleichzeitig die Worte.
»Thea, was machst du da?!« Phelan musste wohl etwas geahnt haben, denn er war überraschend schnell wieder zurück.
»Fürst Bajan muss unsere Sprache lernen, es ist wichtig!«, erwiderte Althea den unausgesprochenen Vorwurf.
Phelans Augen begannen wütend zu blitzen. Er hatte selbst schon über dieses Problem nachgedacht, aber nun fühlte er sich übergangen. Gekränkt drehte er sich um und lief davon.
Bajan sah ihm hinterher und seufzte lautlos. Althea lächelte ihm beruhigend zu. »Keine Angst, er kommt zurück. Er ist nur wütend, weil er nicht selbst entscheiden konnte.« Noemi nickte dazu bekräftigend, stand auf und ging ihn suchen. Sie fand ihn nicht weit entfernt. Stumm und forschend sah sie ihn an.
Phelan merkte, wie unter ihrem Blick seine Wut verrauchte. Sie hatten ja recht. Er seufzte, worauf Noemi zu lächeln begann. Phelan antwortete mit einem schiefen Grinsen: »Ihr seid wirklich eine Plage!« Noemi griff seine Hand und zog ihn zum Feuer zurück, und sie bewegte ihn auch dazu, sich beim Fürsten zu entschuldigen, was dieser mit einem Nicken akzeptierte.
Von da an war das Eis gebrochen. Die Mädchen vertrauten sich Bajan auf nur jede erdenkliche Art und Weise an, und selbst Phelan öffnete sich ihm, wenn auch zögerlich.
Bajan lohnte es ihnen, indem er ihnen alles über das Leben in der Steppe beibrachte, was er wusste. Sie begannen morgens, wenn er ihnen erläuterte, wo sie sich gerade befanden – die Karten halfen dabei. Nachts, in den wenigen Stunden, wenn es richtig dunkel war, zeigte er ihnen die Sterne, erklärte Sternbilder und wie man anhand ihrer den Weg fand. Noemi lag dicht bei ihnen und staunte, dass das Licht der Sterne ausreichte, um sie Phelans übersetzende Hände erkennen zu lassen. Das hätte sie nie für möglich gehalten.
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