Sie zog die Decken zurück und schob das Hemd der Frau hoch. Wie mager sie war, fast ein Skelett! Althea spürte mit ihrem Licht, wo die schwarzen Stellen am stärksten waren. Sie holte tief Luft und setzte gleich unterhalb der Rippen einen schmalen Schnitt, ließ ihr Licht hineinfließen und begann ihr Werk.
Stück für Stück wandte sie sich den einzelnen Gebilden zu, den vielen Organen, für die sie keine Namen hatte. Sie löste das tote Gewebe heraus, heilte, was noch zu retten war und verdrängte die Schwärze. Tief drang sie dabei in den Körper der Frau ein, sie sah zum ersten Mal bewusst die Strukturen, aus denen ein Mensch bestand, verstand jedoch nicht die Funktionen der einzelnen Organe. Sie erkannte, dass sie noch viel würde lernen müssen, bis sie soweit war, also entschied sie nach dem, was sie bereits wusste: tot- hinaus; verletzt – heilen; gesund – bleiben. Kein Körperteil ließ sie aus, es dauerte lange, sehr lange.
Schwer atmend löste sie schließlich ihre Hände von der Kranken. Ihr Blick wurde klar, und mit ihm kehrte auch ihr Geruchssinn zurück. Althea musste sich rasch Mund und Nase zuhalten, sonst hätte sie sich auf der Stelle übergeben. Auf dem Bettlaken breitete sich eine dunkle, übel riechende Lache aus. Althea griff nach einem Tuch, das mit einer Schüssel Wasser am Bett bereitstand, und reinigte erst den Körper ihrer Patientin und dann sich selbst. Das Laken zog sie ab und beseitigte die Nässe, so gut es ging. Abschließend deckte sie die Frau fest zu.
Erschöpft hielt sie dann inne und atmete tief durch. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle zusammengerollt und geschlafen, aber dann würde man sie entdecken. Nein, sie musste zurück in ihre Kammer. Benommen stolperte sie in den Flur. Die lange Reihe der Türen verschwamm vor ihren Augen. Welche war es nur gewesen? Warum war es so still?
Althea lief ein Stück, lauschte, dann meinte sie, hinter der vordersten Tür murmelnde Stimmen zu vernehmen. Sie legte ihre Hand auf den Riegel, aber sie war nicht verschlossen, sondern schwang unter dem Druck ihrer Hand ein Stückchen auf. Die beiden Männer, die in dem Raum vor dem Feuer saßen, bemerkten es nicht.
Althea hielt die Luft an. Es waren Bajan und sein Freund, Leviad. Von ihrem Beobachtungsposten konnte sie nur die Rücken der beiden Männer sehen. Sie hielten je einen Becher in der Hand und unterhielten sich leise. Doch etwas machte sie stutzig. Leviad hatte eine Waffe, es war ein Schwert. Er hatte es hinter seinem Stuhl liegen und so, wie er es versteckt hielt, war es ausgeschlossen, dass Bajan es bemerkt haben konnte. Althea erschrak. Was ging hier vor? Gerade fingerte Leviad wieder daran herum.
»Und es besteht keinerlei Hoffnung mehr für sie?«, fragte Bajan leise. Viel hatte er nicht preisgegeben über die Gründe ihrer Flucht, nur über die Entwicklung in Gilda hatten sie lange und ausgiebig gesprochen. Vielmehr spürte er, dass sein Freund jemanden brauchte, mit dem er reden konnte. Der Grund war die schwere Krankheit seiner Frau, wie er soeben erfahren hatte.
»Nein, die Mönche geben ihr nur noch wenige Wochen. Alles, was ich brauche..« Leviad brach ab. Althea hielt die Luft an, als sie sah, als er sein Schwert packte. „..ist etwas, um ihre Schmerzen zu lindern.« Mit einem Ruck zog er das Schwert hervor und richtete es auf Bajan. Althea unterdrückte einen Aufschrei. »Es tut mir leid, mein Freund. Steh auf!«
»Leviad, was hat das zu bedeuten?!« Althea konnte sehen, dass Bajan völlig überrumpelt war. Er hatte tiefe Ringe der Erschöpfung unter den Augen und starrte ungläubig auf das Schwert, das sich auf seine Brust richtete.
»Steh auf!« Leviad unterstrich den Befehl mit einem Ruck, der Bajan ein Stück zurückweichen ließ. Langsam erhoben sich beide Männer.
»Und jetzt leg deinen Dolch ab. Aber langsam!«
Althea presste sich ängstlich in die Türöffnung, als Bajan tat, wie ihm geheißen. Er bewegte sich ganz langsam, war auf der Hut. »Willst du mir nicht sagen, was dies alles zu bedeuten hat?«, fragte er nicht wütend, sondern voller Bedauern.
Leviad packte den Dolch und steckte ihn ein. »Sie kamen heute Nachmittag. Alles, was sie wollten, war, dass ich euch ausliefere, solltet ihr hier unvermutet erscheinen. Nicht, dass ich damit gerechnet habe. Aber nun..« Er ruckte mit dem Schwert nach rechts, fort von der Feuerstelle. Bajan bewegte sich langsam in die geforderte Richtung. Althea konnte sehen, wie seine Augen wütend zu funkeln begannen, und sie vermutete, dass er fieberhaft nach einem Ausweg suchte.
Aber dies war auch Leviad klar. »Dreh dich um! Stell dich an die Wand, die Hände nach hinten! Nun mach schon!« Bajan drehte sich um, hob die Hände, und schon wurden sie ihm auf den Rücken gebunden. »Setz dich hin.«
Bajan sank an der Wand zu Boden und sah zu ihm auf. »Was haben sie dir geboten? Nun sag schon, was ist so wertvoll, dass du unsere Freundschaft verrätst?«, fragte er bitter. Jetzt sah Althea erst vollends, wie erschöpft er war. Sie musste ihm helfen! Alles in ihr spannte sich an.
Leviad setzte sich wieder auf seinen Stuhl, das Schwert griffbereit auf den Knien. »Sie haben mir Mohnsaft geboten, Mohnsaft für meine Frau. Es .. es tut mir leid«, presste er hervor.
Althea spürte, dass etwas sie anstieß. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Bajan sah die Bewegung in der Tür und erstarrte. Was wollte sie hier? Um Leviad abzulenken, fragte er: »Hast du schon einen Boten geschickt?«
Leviad schnaubte. »Bei einem solchen Sturm würde ich nicht einmal einen Hund hinausjagen. Nein, das hat Zeit bis morgen früh. Sie haben mir gesagt, dass du ein Verräter bist, dass du Hexerei gedeckt und das Leben der Königskinder aufs Spiel gesetzt hast und..«
Bajan unterbrach ihn wütend: »Glaubst du, so etwas würde ich tun? Die Kinder von Aietan? Warum habe ich sie wohl bei mir?«
Leviad zuckte zusammen. »Dann sind es wirklich seine Kinder? Der Junge, das kann aber nicht Currann sein..«
»Nein, Currann hat sich unseren Verfolgern in den Weg gestellt, er hat für das Leben seiner Geschwister gekämpft. Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist.« Bajan hielt Leviads Blick fest und sah aus den Augenwinkeln, dass Althea fast heran war.
Doch sie tat etwas völlig anderes, als er erwartete. Sie ging einfach um den Stuhl herum und stellte sich mit ruhigen, eigentümlich schimmernden Augen vor Leviad. Dieser zuckte zusammen und griff nach seinem Schwert.
»Nein!« Bajan wollte sich auf ihn werfen, aber seine gefesselten Hände behinderten ihn. Althea rührte sich nicht, sondern sah Leviad fest in die Augen. Der Mann hielt das Schwert abwehrend in Bajans Richtung, während er ungläubig das Mädchen vor sich anstarrte. Bajan spannte sich an, während er sich langsam wieder aufrichtete. Was hatte Althea vor?
»Eure Frau, sie braucht den Mohnsaft nicht mehr«, sagte Althea leise.
»Was sagst du da?« Leviad wurde bleich. Seine Hand begann zu zittern, die Schwertspitze sank zu Boden, und sie klammerte sich derart um den Griff des Schwertes, dass die Knöchel weiß hervorstanden.
Da ertönten aus dem Gang aufgeregte Rufe: »Herr Leviad, Herr Leviad, kommt schnell!« Eine der Mägde tauchte völlig aufgelöst in der Tür auf.
Leviad sprang ächzend auf. Er stieß Althea beiseite, sodass sie hart zu Boden stürzte, lief hinaus und verriegelte die Tür.
Althea rappelte sich mühsam auf und kroch hinüber zu Bajan. Die Seile hatte sie mit ihrem Messer schnell durchtrennt. Bajan zog sie in seine Arme. »Was hast du getan?«, flüsterte er.
»Sie wird wieder gesund.« Althea lehnte sich völlig erschöpft an ihn und schloss die Augen.
Bajans Gedanken rasten, aber erst einmal tröstete er sie: »Hab keine Angst, jetzt braucht er uns nicht mehr ausliefern.«
Althea spürte, dass er dies auch zu seiner Beruhigung sagte. Sie war müde, so unendlich müde, aber eines musste er noch erfahren. »Einer der Jungen ist schwer verwundet. Kiral ist es nicht«, murmelte sie noch und war gleich darauf eingeschlafen.
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