»Oh, und sie haben sogar einen Tempel«, sagte Tamas, als er ein etwas größeres, massives Gebäude mit einem Turm entdeckte.
»Und dort hinten sind die Minen«, rief Yemon. Er hatte die dunklen Öffnungen im südlich gelegenen Berg entdeckt.
»Es ist .. beeindruckend«, sprach Ouray ihrer aller Empfindungen aus. Dem Ort haftete etwas Erhabenes an, besonders jetzt, im Licht der fast untergegangenen Sonne.
Kiral kniff die Augen zusammen. »Seht ihr das auch? Einige Gebäude scheinen zerstört zu sein.« Er zeigte auf die oberen Teile der Siedlung. Da sahen es auch die Kameraden.
»Oh ja, ganz schön viele sogar«, sagte Currann mit zusammengebissenen Zähnen. Er mochte nicht daran denken, wie es Siri ergangen war, nicht jetzt. »Los, reiten wir, sonst ist es dunkel, bevor wir ankommen. Wir wollen ihnen doch keine Angst machen.«
»Wartet!« Ouray zügelte sein Pferd. Die anderen sahen sich zu ihm um. »Wie wollen wir uns vorstellen? Wir können uns doch schlecht unter unseren wirklichen Namen bekannt machen, oder?«
Currann schlug sich innerlich an die Stirn. »Natürlich, du hast recht. Wir brauchen Decknamen und eine Geschichte, vor allem eine Geschichte. Kiral, du kannst dich nicht verbergen, also bleibst du am besten, wer du bist. Sinan .. meinst du, Tamas, dass man seinen Namen hier kennt?«
»Nein, das glaube ich nicht, und Ourays und Yemons auch nicht. Aber uns beide schon.«
»Wie sollen wir uns nennen? Oh, ich weiß etwas.« Currann grinste schief. »Ich nenne mich Althan, das ist Altheas Jungenname. Sie hat ihn oft benutzt.« Die anderen begannen zu lachen.
»Ich weiß auch einen. Ich nenne mich Tajaeh, nach meinem Onkel. Er ist ein rechter Trunkenbold und Schürzenjäger, und man sagt, dass er viele Bastarde hat, die alle seinen Namen tragen.« Tamas grinste. »Es ist ein alter Witz in meiner Familie. Lassen wir sie ruhig glauben, ich sei einer von ihnen.«
»Und die Geschichte?«, fragte Ouray.
»Sagt ihnen doch die Wahrheit, zumindest einen Teil davon«, meinte Kiral schulterzuckend. »Wir sind Deserteure, haben uns mit der neuen Heeresführung angelegt, weil sie mich zu eurem Glauben zwingen wollten. Als wir protestiert haben, hat es mächtig Ärger gegeben. Wir sahen keinen anderen Ausweg. Nun, was haltet ihr davon?«
»Das klingt gut«, meinte Tamas. »Heldenhafte Kameraden gehen füreinander durchs Feuer. Ja, so machen wir es. Currann?«
»In Ordnung, es ist eine gute Geschichte. Jetzt sollten wir aber sehen, dass wir heute noch dort ankommen.« Er trieb ungeduldig seinen Hengst an, ohne eine Antwort abzuwarten.
Bald konnten sie mehr erkennen. Der Gebirgsbach mündete in einen großen See am Ende des Tales, bevor er sich in einen reißenden Fluss verwandelte, der parallel zur Straße nach Norden floss. Um den See herum waren ausgedehnte Felder angelegt, auch Weiden konnten sie erkennen, aber: »Wie merkwürdig, ich sehe gar keine Tiere«, sagte Ouray.
Immer näher kamen sie dem Ort, und jetzt sahen sie auch, dass Menschen dort waren, sie liefen zwischen den Gebäuden hin und her und arbeiteten auf den Feldern. Doch plötzlich entstand hastige Bewegung. Sie deuteten in ihre Richtung, Rufe erschallten, eine Glocke wurde geschlagen.
»Seht doch, sie fliehen vor uns!«, rief Tamas und wollte sein Pferd antreiben.
Currann hob die Hand. »Halt. Natürlich tun sie das, wir kommen nicht von der Straße, sondern aus Richtung der Sümpfe. Wir sollten alles tun, um ihnen zu zeigen, dass wir in friedlicher Absicht kommen. Reiten wir weiter, aber langsam. Am See halten wir an.«
Als sie dort ankamen, lag eine unheimliche Stille über dem Ort. Nichts war zu hören außer dem Rauschen des Wassers. Je näher sie kamen, desto ärmlicher sah die Siedlung aus. Die Felder waren zwar bestellt, aber sie wirkten irgendwie vernachlässigt – ›Nein, nicht vernachlässigt‹, dachte Currann mit einem Blick darauf. Sie sahen aus, als fehlte etwas zu ihrer Bestellung. Sie wirkten karg. Auch die Gebäude waren alt, soweit sie das von hier unten erkennen konnten, klein und sehr einfach. Dennoch wirkte die Siedlung sauber, aufgeräumt, es war also jemand dort, der sich darum kümmerte, wenn auch mit unzureichenden Mitteln.
Nun waren auch deutlich die oberen, zerstörten Gebäude zu erkennen. Sie waren ausgebrannt, die Dächer eingestürzt. Niemand schien sie wieder instand gesetzt zu haben. Das Fort jedoch wirkte völlig unberührt, das mächtige Tor war fest verschlossen.
»Was für ein merkwürdiger Ort«, murmelte Kiral und sah sich angespannt um. Er spürte, dass sie aus vielen Augen beobachtet wurden, sah aber niemanden.
Currann ließ sie anhalten. »Tamas, wir beide gehen hinauf. Lassen wir unsere Waffen hier.« Tamas wollte sie schnell ablegen, aber Currann bedeutete ihm, vor die Gruppe zu treten. Deutlich sichtbar für ihre unsichtbaren Beobachter legten sie die Schwerter und alle anderen Waffen ab. Sogar die Rüstungen ließen sie zurück, sodass sie schutzlos auf die Siedlung zuliefen.
»Wo mögen sie hin sein?«, fragte Tamas.
Currann war sich nicht schlüssig. »Ins Fort können sie nicht gelaufen sein, dafür war nicht genug Zeit, außerdem hätten wir das gesehen. Also bleibt nur der Tempel übrig.«
Sie schritten den deutlich sichtbaren Pfad hinauf in die Siedlung. Alles war aus Stein geschichtet, Mauern, Dächer, Zäune und Verschläge. Die Türen der Häuser bestanden aus einfachem, mit Fell bespanntem Flechtwerk.
»Fällt dir etwas auf?«, flüsterte Tamas.
Currann sah sich unbehaglich um. »Was meinst du?«
»Es sind keine Tiere hier, Hühner, Kühe, Ziegen oder Schafe. In jeder Siedlung in Nador gibt es sie zuhauf, aber hier fehlen sie.« Tamas war sichtlich unwohl. Es war, als betraten sie einen toten Ort, zwar sauber und aufgeräumt, aber ohne Leben. Mit vorsichtigen Schritten näherten sie sich einem kleinen Platz, an dessen Stirnseite sich der Tempel erhob. Das geschlossene Tor starrte sie schweigend an.
Currann hatte das untrügliche Gefühl, dass sie aus dieser Richtung beobachtet wurden, also wandte er sich dem Tempel zu. »Ist hier jemand?«, rief er laut. Er streckte die Arme vom Körper weg. »Wir sind unbewaffnet und kommen in friedlicher Absicht.« Laut schallte seine Stimme über den kleinen Platz und brach sich an den Mauern wieder.
Stille. Doch plötzlich wurde sie von einem Laut unterbrochen, es klang wie ein Aufschrei, der von einer Hand hastig erstickt wurde. »Hast du das gehört?«, flüsterte Tamas.
Currann warf einen unbehaglichen Blick auf das Tor des Tempels. »Ja.«
»Kommt heraus, Ihr habt nichts von uns zu befürchten«, rief Tamas. »Wie denn auch, wir sind ja nur zu zweit«, schnaubte er halblaut.
Currann zog eine Augenbraue hoch, ließ den Blick jedoch nicht von dem Tor. Allmählich kam er sich etwas lächerlich vor. »Weiß du was, wir warten besser am See«, sagte er laut vernehmbar. »Irgendwann werden sie schon rauskommen.« Er wandte sich demonstrativ ab, aber da wurde mit einem Knirschen ein Riegel fortgezogen. Das Tor des Tempels öffnete sich.
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Die westliche Steppe
Auf der Flucht
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Althea träumte.
Sie sah den Felsen vor sich aus der Steppe aufragen, umhüllt von einer dichten Staubwolke, die das gleißende Sonnenlicht nicht zu durchdringen vermochte. Langsam schritt sie über das Gras in angstvoller Erwartung dessen, was sie dort erblicken mochte. Konturen schälten sich aus dem Staub, es waren längliche Konturen, sie lagen am Boden – Althea schrie auf, sie rannte zu ihnen. Es waren Soldaten, ihre offenen Augen starrten sie leblos an. Ängstlich wich sie zurück, als sie sah, dass ihnen jemand die Kehle durchgeschnitten hatte. Es waren frische Wunden, das Blut pulste hervor und besudelte das Gras zu ihren Füßen. Doch so schrecklich der Anblick war, Althea zwang sich, genau hinzusehen. Sie musste wissen, ob einer der Jungen darunter war. So schritt sie die Toten ab, langsam und ängstlich bemüht, ja kein Geräusch zu machen, denn es war hier eigentümlich still.
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