Erleichterung wollte sie nicht überkommen, als sie kein bekanntes Gesicht darunter entdeckte. Aber ihr war bewusst, dass dies nur ein Teil der Kämpfer war. So lief sie weiter, durch die Engstelle hindurch. Der Staub legte sich langsam, und es schälten sich Gestalten heraus, stehende Gestalten. Eine davon war sehr groß und schlank. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, sie wollte rufen: ›Kiral!‹, aber ihre Lippen blieben stumm. Sie begann zu zählen, eins, zwei, drei, vier, fünf .. Der Staub gab den Blick frei auf eine sechste Gestalt, die sich auf dem Boden wand. ›Einer ist verletzt!‹ Sie begann zu laufen, sie brauchten ihre Hilfe, aber sie kam nicht näher, etwas hielt sie fest.
Sie spürte Kälte hinter sich. Sie wurde gesucht.
Wenn ER sie fand, würde ER auch die Jungen finden, also ließ Althea los, obwohl ihr das Herz wehtat, nicht zu wissen, was mit ihnen war. Sie stieß die Bilder von sich .. schwer atmend wachte sie auf.
Sie konnte nichts sehen, es war dunkel, sie lag .. ihre Hände tasteten, fühlten unbekannten Stoff, dann eine kleine Gestalt vor sich, sie roch einen vertrauten Geruch und spürte einen Arm um ihre Taille. Phelan murmelte etwas im Schlaf und zog sie dichter an sich. Althea war so erleichtert, dass sie erst einmal die Augen schloss, um sich zu beruhigen.
Sie war in Sicherheit, hier konnte ihr nichts geschehen. Dankbar kuschelte sie sich an Phelan und zog ihrerseits Noemi dichter an sich. In diesem Moment der Stille kamen die Bilder zurück, die Bilder ihrer Flucht. Es war furchtbar gewesen. Althea versuchte, sie zu ordnen und nicht überhandnehmen zu lassen, um sie verarbeiten zu können.
Sie waren scharf geritten, Bajan und Phelan hatten die Pferde bis zur völligen Erschöpfung angetrieben. Bajan hatte sie fest umklammert gehalten, so fest, dass es beinahe wehgetan hatte. Doch Althea hatte nichts gesagt, nicht protestiert, denn sie hatte gespürt, dass er voller Sorge und Selbstvorwürfe war, die Kameraden allein gelassen zu haben. Und sie hatte gespürt, wie es in ihm arbeitete, wie er plante, und sich in sicheren Händen gefühlt. Sie hatte nicht gewusst, warum, nur, dass es so war. Am späten Nachmittag war er dann plötzlich nach Nordwesten abgebogen – direkt auf eine dunkle Gewitterwand zu, die sich drohend dort auftürmte. Es war fast finster gewesen und Sturmböen waren in Ankündigung des Unwetters über die Steppe gepeitscht, als sie schließlich die schwachen Lichter eines Gehöftes erblickt hatten.
»Was ist das für ein Ort?« Phelan sprach das erste Mal, seit sie die anderen verlassen hatten. Seine Stimme klang rau.
»Das ist das Gehöft meines alten Freundes Leviad. Er wird uns aufnehmen.«
Die folgenden Stunden waren wie im Nebel vergangen. Althea erinnerte sich nur noch undeutlich daran.
Das überraschte Gesicht eines älteren Mannes. »Wir haben deinen Brief erst gestern erhalten!« Die aufgeregten Stimmen vieler Frauen, die sich um die Kinder kümmerten, ja sie geradezu bemutterten. Phelans Proteste, als sie die ängstliche Noemi von ihm fortbringen wollten. Dann etwas zu essen, zu trinken..
Bajans besorgtes Gesicht, wie es sich über sie beugte. »Wir müssen aus dir einen Jungen machen..«
Jemand schnitt ihr die Haare, wo war nur Phelan, er war nicht mehr bei ihr .. schließlich war ihr alles zu viel geworden. Sie war zusammengebrochen, zu einem wimmernden Bündel. Nur noch undeutlich wusste sie, dass Bajan sie hochgehoben und in eine Kammer getragen hatte. Umso deutlicher erinnerte sie sich an ihr Alleinsein, sie hatte geweint und geweint und geweint, hatte nicht mehr aufhören können, bis die Tür aufging, zwei Gestalten erschienen und zu ihr unter die Decken gekrochen waren. Erst da hatte sie zu schlafen vermocht, die tröstende Wärme von Phelan und Noemi neben sich.
Althea lauschte in die Nacht, lauschte dem ruhigen Atem der beiden und dachte darüber nach, was ihr widerfahren war. Sie hob die Hand, strich sich über die Haare – sie waren kurz, noch kürzer als Phelans, und schwarz gefärbt mit irgendeiner wasserfesten Paste, wie sie sich nun erinnerte. Und alles nur, damit man sie unterwegs nicht erkannte. Es war ihr, als hätte sie damit die letzte Bindung an ihr altes Leben verloren. Traurig schloss sie die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, aber es gelang ihr nicht.
Vorsichtig, damit sie die beiden nicht weckte, erhob sie sich und verließ die Kammer. Sie war durstig, irgendwo musste es etwas zu trinken geben. Doch im Gang vor ihrer Tür wusste sie erst einmal nicht mehr weiter. Sie hatte keine Erinnerungen daran, wie der Weg hierher gewesen war, also wandte sie sich in die Richtung mit den meisten Türen. Sie war kaum ein paar Schritte weit gekommen, als sie von weiter vorne einen leisen, gequälten Aufschrei vernahm.
Althea erstarrte. Es war eine Frau gewesen, dessen war sie sich sicher, und es war aus der hintersten Tür gekommen. Mit leisen Schritten näherte sie sich ihr. Sie stand weit offen und gab den Blick auf ein großes Bett frei. Darin, auf vielen Kissen und begraben unter einem Berg Decken, wand sich eine Frau. Althea sah abgemagerte Hände durch die Luft fahren, sie verkrampften sich in die Decken, der Mund rang nach Luft. Das Gesicht war spitz, die Augen starrten einem Totenschädel gleich zur Decke.
Die Frau war krank, todkrank, Althea erkannte es sofort am Geruch. Es war dieser süßliche Geruch, der ihr schon so oft im Hospiz begegnet war. Etwas stieß sie an .. war es Instinkt oder Vorhersehung? Sie wusste es nicht, fand sich aber am Bett der Frau wieder, die Tür fest hinter sich geschlossen.
Der Blick der Frau richtete sich auf sie. »Bitte .. gib mir etwas .. hol Leviad..« Die Worte waren kaum zu verstehen.
Althea kniete sich zu ihr. »Was wollt Ihr?«, fragte sie ruhig.
»Ich will Frieden .. keine Schmerzen«, stöhnte die Frau.
Althea strich ihr sanft über die Stirn. »Ich kann Euch die Schmerzen nehmen. Aber wollt Ihr leben oder sterben?« Warum sagte sie so etwas Schreckliches? Althea wusste es nicht, aber ohne dass sie es bewusst herbeigerufen hatte, breitete sich die Wärme in ihr aus. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass noch etwas anderes in ihr wohnte, etwas, das ihr Handeln bestimmte.
Die Augen der Frau weiteten sich. In den Augen ihres Besuchers begann ein Licht zu leuchten. »Barmherziger Urian, sendest du mir deinen Todesengel?«, keuchte sie und presste sich in die Kissen.
»Willst du leben oder sterben?«, wiederholte Althea ihre Frage und hob die Hände an das Gesicht der Frau.
»Ich will bei Leviad bleiben. Bitte..«, flehte die Frau schwach.
»Dann hab keine Angst. Schlaf!« Althea griff den Kopf der Frau, spürte die trockene, pergamentene Haut, sie war dünn, so dünn, dann die spitzen Knochen, darunter jedoch .. Sie konzentrierte sich und sandte ihr Licht in sie hinein. Sie ließ die Frau einschlafen, dann reiste sie tiefer in sie hinein. Im Innern ihres Körpers spürte sie Stellen, viele kranke Stellen, von denen eine saugende Schwärze ausging. Noch nie hatte sie eine solche Zerstörung gespürt, es war, als wäre alles davon befallen.
Althea hielt inne, wandte sich einer befallenen Stelle zu, es war ein Organ, wie sie erkannte, ein sehr kleines, und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Sie vermochte zwar das befallene Gewebe zu lösen und die gesunden Stellen zusammenzufügen, aber anders als bei einer Wunde konnte das kranke Gewebe nirgends hin.
Althea hielt erstaunt inne und machte die Augen wieder auf. Die Frau atmete tief und ruhig. Hatte sie zuvor Gewebe oder Flüssigkeit austreten lassen? Sie wusste es nicht, aber .. doch, es musste so sein, bei Meda, bei sich selbst, sogar bei Kiral hatte sie unbewusst das Schlechte hinausgedrängt.
Nur, hier brauchte es mehr, das befallene Gewebe musste auf jeden Fall hinaus. Aber wie? Althea überlegte nicht lange, sondern zog ihr Messer. Dies hatte sie noch nie, niemals getan. Noch nie hatte sie wissentlich jemanden damit verletzt, sah man einmal von der Notwehr im Hurenviertel ab.
Читать дальше