Bajan blieb betroffen sitzen, Althea fest in seinen Armen. Er rührte sich auch nicht, als Leviad nach einer Weile die Tür wieder entriegelte und sich kraftlos auf den Stuhl fallen ließ. Die Waffe hatte er nicht wieder mitgebracht. Der Mann war derart erschüttert, dass Bajan augenblicklich ruhig wurde. Stumm sah er zu ihm auf, Althea fest an sich gedrückt.
»Bajan, was hat das zu bedeuten?«, fragte Leviad tonlos.
»Ich muss sie in Sicherheit bringen«, sagte Bajan leise und drückte Althea fester an sich.
»Wer ist sie?«, fragte Leviad ehrfürchtig.
Bajan sah ihn zwingend an. »Sie ist die Tochter von Meister Thorald, dem temorischen Lehrer der Königssöhne, und gleichzeitig ist sie die Nichte der Königin. Sie besitzt eine Gabe, es ist die Gabe der heiligen Asklepia. Die Mönche dürfen ihrer nicht habhaft werden, verstehst du? Es ist so wichtig, dass wir alle, einschließlich des Thronfolgers, unser Leben für sie aufs Spiel setzen.«
»Es tut mir leid«, sagte Leviad. Er mochte ihm nicht in die Augen sehen.
Doch Bajan war nicht gewillt, dies gelten zu lassen. Wortlos stemmte er sich mit Althea auf dem Arm hoch und brachte so schnell wie möglich die Tür zwischen sich und denjenigen, den er bis eben noch als guten Freund betrachtet hatte. Den Rest der Nacht verbrachte er bewaffnet in der Kammer der Kinder und wachte über ihren Schlaf.
Am folgenden Morgen erwachten die drei bei Sonnenaufgang. Phelan stutzte zunächst, als er die kurzen schwarzen Locken vor seinem Gesicht erblickte, aber dann fiel ihm alles wieder ein. Er hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte sich erholt. »Thea?« Althea drehte sich verschlafen zu ihm um und weckte dabei Noemi auf. »Ist alles wieder in Ordnung?«, fragte er behutsam.
Althea lächelte. »Ja, alles, und noch viel mehr!« Sie setzte sich auf.
Phelan fuhr mit einem Ruck hoch. »Was ist passiert?« Noemi schaute zu spät in ihre Richtung und hatte nichts mitbekommen. Dies änderte sich jedoch, als Althea mit Worten und Zeichen von der vergangenen Nacht berichtete.
»Er wollte uns verraten?« Phelan sprang entsetzt auf und verriegelte sofort die Tür.
Doch Althea beruhigte ihn wieder: »Jetzt nicht mehr. Ich möchte gerne nach der Frau schauen.« Sie drängte Phelan beiseite und hörte nicht auf seine Proteste, als sie den Riegel wieder zurückzog. Sie winkte die beiden mit sich. An der Tür zur Krankenkammer hielt sie inne und lugte vorsichtig hinein. Leviad saß am Bett seiner Frau, stützte ihren Kopf und flößte ihr vorsichtig Flüssigkeit ein. Unendlich zärtlich und behutsam ging er dabei zu Werke, er nahm die Augen nicht einen Augenblick von ihr.
Althea sog diesen Anblick in sich auf, wollte aber nicht stören. Sie zog Phelan und Noemi mit sich. »Ich habe Hunger«, sagte sie bestimmt. »Wo ist die Küche?«
»Hier entlang.« Phelan wies auf einen schmalen Durchgang, der ihr in der Nacht nicht aufgefallen war. Althea atmete auf, als sie dort das übliche geschäftige Treiben erblickten. Es war in jedem Haus gleich, dies war der lebendigste Raum.
»Hallo, ihr drei! Habt ihr Hunger?«, riefen die Frauen.
Stummes Nicken wurde mit frisch gebackenen Fladen und Butter, Hirsebrei mit Honig und frischer Milch belohnt. Althea spürte, wie ausgehungert sie war, und ließ es sich schmecken.
Die Außentür ging auf und Bajan erschien darin. Die Kinder hörten wie auf Kommando auf zu kauen. Althea erkannte froh, dass er etwas erholter aussah. Durch die offene Tür konnte sie einen Blick auf den Hof erhaschen. Pferde standen dort angebunden und wurden von den Dienern bepackt. Fragend blickte sie ihn an, und er antwortete ihr mit einem Nicken. Erleichtert schloss sie kurz die Augen. Bajan setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm dankend einen Becher von der Köchin entgegen.
»Wann werden wir reiten?«, fragte Phelan.
Bajan sah auf. »Wenn ihr fertig seid. Althea, fühlst du dich in der Lage, selbst zu reiten?«
Sie nickte stumm. Rasch beendeten sie ihr Frühmahl und gingen nach draußen in den Hof. Dort standen fünf Pferde angebunden, Phelans Stute und ihr altes Ersatzpferd vom gestrigen Tage, noch ein Packpferd sowie ein großer Hengst und eine kleinere, zierliche Stute. Sie wandte sich sofort Althea zu und begann an ihr zu schnüffeln. Mit einem Grinsen holte Althea eine Mohrrübe hervor, die sie in der Küche eingesteckt hatte.
»Sie ist ein Geschenk an dich.« Bajan griff die Zügel des Hengstes und saß auf.
Altheas Kopf fuhr hoch. »Für mich??« Sprachlos strich sie der Stute über die Blesse und wurde mit einem sanften Schnauben belohnt.
Phelan nickte anerkennend. »Sie ist ein schönes Tier.« Die Bewunderung war ihm deutlich anzuhören.
»Ja, aber warum ..?« Althea konnte es nicht glauben.
»Sie gehört meiner Frau.« Leviad stand plötzlich in der Küchentür und beobachtete sie. »Sie will, dass du sie bekommst. Das hat sie mir heute gesagt.« Er ging zu ihr hinüber und hielt die Zügel fest, damit Althea aufspringen konnte.
Bajan beobachtete die Szene aufmerksam, bereit, jederzeit einzugreifen. Es war jedoch nicht nötig. Deutlich war zu sehen, dass Leviad vor Althea große Ehrfurcht hatte. »Wir schulden dir allen Dank, den wir dir geben können. Dies Geschenk ist das geringste«, sagte Leviad. Er wagte nicht, sie anzublicken.
Althea sah traurig auf ihn herab. Auch er hatte Angst vor ihr. Sie wagte ein vorsichtiges Lächeln. »Verratet einfach nicht, dass wir hier waren, das ist Dank genug. Sagt Eurer Frau, dass ich mich sehr über ihr Geschenk freue. Sie hat sich für das Leben entschieden, weil sie bei Euch bleiben wollte.«
Getroffen ließ Leviad die Hand sinken. Er wich ein wenig zurück. »Sie hatte die Wahl?«, fragte er mit bleichem Gesicht.
Bajan, der sich schon lange nicht mehr über Altheas Aussprüche wunderte, beschloss einzugreifen, bevor Leviad völlig die Fassung verlor. »Leviad, wir müssen uns beeilen«, brach er den Bann zwischen den beiden.
Ihr Gastgeber nahm sich sichtlich zusammen. »Meidet die Straßen, sie werden mit Sicherheit überwacht.« Er ging zu Bajan hinüber und klopfte die Kruppe des Hengstes. »Pass gut auf ihn auf.«
Bajan nahm die Zügel auf. »Ich werde ihn zurückschicken, wenn ich es kann«, erwiderte er kühl.
Leviad trat zurück. »Damit rechne ich nicht. Wer weiß, wo dich der Weg noch hinführt, du wirst ihn gewiss brauchen. Nimm ihn und behalte ihn, das ist mein Dank dafür, dass du Althea hierher geführt hast.« Zum ersten Mal blickte er ihn wieder direkt an.
Bajan sah das Bedauern in seinen Augen und wusste, dass er sich damit auch entschuldigen wollte. »Ich hätte auch alles dafür getan, meiner Frau die Schmerzen zu ersparen«, sagte er knapp, nickte ihm zum Abschied zu und trabte an.
Eingedenk ihrer Erfahrungen bei ihrem ersten Halt mied Bajan von nun an menschliche Siedlungen und Straßen auf dem Weg nach Westen völlig. Zunächst ritt er langsam, um Althea die Gelegenheit zu geben, sich an die Stute zu gewöhnen, aber sie hatte von Anfang an keine Schwierigkeiten mit ihr. Er selbst freute sich an den kräftigen, geschmeidigen Bewegungen des Hengstes, ein prächtiges Tier, das er nur mit Bedauern an Leviad zurückgeschickt hätte. Sein Freund - er bezeichnete ihn in Gedanken immer noch so - war ein begnadeter Pferdezüchter. Er hatte einige erlesene Tiere in seinen Ställen stehen, aber dies war sein persönliches gewesen. Deswegen wusste Bajan dieses Geschenk umso mehr zu schätzen.
Dank Leviads Bemühen, seinen Verrat wieder gutzumachen, waren sie nun ausreichend versorgt. Er hatte ihnen Ersatzkleidung und Karten zur Verfügung gestellt, auf denen selbst die verstecktesten Wasserstellen verzeichnet waren, und auch an Hinweise zur Durchquerung von Nador gedacht, wo Bajan sich nicht gut auskannte. Auch mit Waffen hatte Leviad sie alle versorgt, Phelan und Althea bekamen sogar ein Kurzschwert und alle drei Kinder Pfeile, Köcher, einen kleinen Bogen und eine Schleuder geschenkt. Als Bajan sah, dass Althea problemlos mit ihrer Stute umgehen konnte, erhöhte er das Tempo. So kamen sie gut voran.
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