An wen also konnte er sich wenden? Wer kannte sich gut genug aus, lebte aber gleichzeitig so weit außerhalb, dass er mit den Kindern nicht in die Nähe einer Siedlung und ganz besonders nicht in die Nähe der Stadt Nador kam? Diese Frage galt es, sorgfältig abzuwägen. Wenn feststand, wo sie absteigen würden, dann würde er eine Entscheidung fällen, aber er tendierte schon jetzt zu einer ganz bestimmten Person. Eigentlich war er der Einzige, dem er hinreichend traute. Wenn es ihm gelänge, diesen Mann zu finden, wären sie einen großen Schritt weiter.
An einem heißen Morgen erreichten sie das Ende der Hochebene Moranns. Die Kinder staunten über den Anblick, der sich ihnen bot. Noch nie hatten sie so hohe Berge gesehen und schon gar nicht mit schneebedeckten Gipfeln. Doch Bajan ließ ihnen kaum Zeit, den Anblick zu genießen. Sich sorgfältig umsehend, versuchte er, einen gangbaren Abstieg zu finden, denn es war ihm bewusst, dass sie weithin sichtbar waren. Die Straße war nicht zu sehen, aber er wusste, dass sie kaum ein paar Stunden entfernt sein musste, vielleicht sogar erheblich näher.
Bald hatte er einen Pfad gefunden. Es war noch früher Vormittag, als sie sich an den Abstieg machten. Der Pfad musste von Hirten benutzt worden sein, jedenfalls fand er am oberen und unteren Ende des Abstiegs verlassene Feuerstellen vor, aber er hütete sich, diese zu benutzen. Obwohl er weit und breit keine Menschenseele sah, trieb er die Kinder zur Eile an. Diese Stelle war einfach zu gut einsehbar. Ihm war klar, dass sie ihr Nachtlager weit entfernt aufgeschlagen mussten, damit man den Feuerschein nicht von hier sehen konnte. Vielleicht würde er auch ganz und gar auf ein Feuer verzichten.
Dies stellte sich als weise Entscheidung heraus, denn als die Nacht heraufzog, flackerte am Horizont der Widerschein eines Feuers. Phelan war es, der es entdeckte. Bajan selbst hatte auf dem Weg niemanden bemerkt, zu dicht war die Vegetation hier unten.
Durch das dichte, wuchernde Buschwerk waren sie gezwungen, die vorgegebenen Pfade zu benutzen, aber es schützte sie auch vor Entdeckung. Bajan beschloss, lieber kein Feuer zu machen, sondern sich und den Kindern einen Unterschlupf unter ein paar Felsen zu suchen.
In den folgenden Tagen ritten sie mit erhöhter Aufmerksamkeit. Mehr als einmal vernahmen sie von Weitem den Lärm umherziehender Herden, das Gebell der Hütehunde und die Pfiffe der Hirten. Sie mussten erhebliche Umwege in Kauf nehmen. Hoffentlich war er in der Lage, seinen Gewährsmann in diesem Gewirr aus Pfaden und Gestrüpp zu finden. Immer wieder verglich er die Karte und suchte nach Orientierungspunkten. Spätestens jetzt wurde sein Verhältnis zu Phelan spürbar vertrauter. Der Junge achtete selbst auf kleinste Details, daher war er beim Auffinden der Landschaftsmerkmale eine große Hilfe. Bajan übertrug ihm in ihrem Unternehmen mehr und mehr Verantwortung, sodass sie sich bald vollkommen aufeinander verließen. Phelan wuchs mit der Verantwortung, die er übertragen bekam, und die Mädchen überließen ihm bereitwillig diese Stellung in ihrer Gruppe.
Irgendwann war Bajan sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Einen Tag später erreichten sie am Nachmittag ein kleines Gehöft, einsam gelegen inmitten des Busches. Bajan ließ die Kinder absitzen und führte sie tief in das Buschwerk hinein. Sie sollten in Deckung bleiben. Dies war ein kritischer Moment, die Kinder spürten es und blieben völlig still, während sich Bajan vorsichtig dem Gehöft näherte.
›Gehöft ist allerdings eine übertriebene Bezeichnung‹, dachte er, als er sich der einfachen Hütte aus Stein und den beiden windschiefen Ställen aus Flechtwerk näherte. Ein Hund kam aus dem Schatten einer der Ställe geschossen und blieb knurrend vor ihm stehen. Doch damit hatte Bajan noch nie Schwierigkeiten gehabt. Er konnte sehen, dass das Tier Angst hatte und nicht wirklich gefährlich war. Also kniete er sich hin und hielt ihm seine Hand zum Beschnüffeln entgegen. Umgehend wurde er mit einem Schwanzwedeln und einem feuchten Schlecker über die Hand begrüßt. Bajan lachte leise und klopfte das Tier auf den Rücken, worauf dieses sich begeistert an ihn warf und ihm gewiss ein paar Flöhe vermachte.
»Na, und wo ist Nadim?«, fragte er mehr sich selbst als den Hund. Der kläffte kurz, als er den Namen seines Herrn hörte, sprang auf, lief ein Stück voraus und drehte sich abwartend nach ihm um.
Bajan begriff, dass er ihm folgen sollte. »Schlaues Kerlchen«, brummte er und folgte dem Hund um die Hütte herum. Noch bevor er die Rückseite erreichte, vernahm er ein lautes Schnarchen. Der Hund hatte sich auf der Veranda niedergelassen und sah Bajan entgegen. Bajans Blick fiel auf die Gestalt, die dort selig vor sich hinschnarchend auf einer Bank lag, den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen und die Hände gemütlich über ein stattliches Bäuchlein gefaltet. Bajan zögerte. Sollte dies wirklich der Nadim sein, den er kannte? Doch dann fiel sein Blick auf den Ring am mittleren Finger der rechten Hand.
»Hast es dir gut gehen lassen in den letzten Jahren, was?«, brummte er, während er sich gegen einen Verandapfosten lehnte.
Die Gestalt fuhr zusammen und richtete sich mit einem verwirrten »Waas ..?« auf. Der Hut segelte zu Boden. Leuchtend braune Augen blickten ihn wachsam an, und die Hand lag so schnell an seinem versteckten Dolch, dass Bajan die Bewegung kaum sah. Oh ja, das war er, wenn auch etwas fülliger um die Mitte und mit einer vollständigen Glatze. Bajan verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln.
Der Mann stutzte, aber dann erkannte er, wer da im Sonnenlicht vor ihm lehnte. »Ja, ist es denn zu fassen? Wer taucht da so unvermittelt in meiner bescheidenen Hütte auf? Der große Fürst!« Er sprang behänder auf, als es seine Leibesfülle vermuten ließ, und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Lass dich anschauen, Mann! Oder muss ich dich jetzt mit Titel anreden?« Sie lachten und umarmten sich.
»Es ist verdammt lange her, mein Freund«, sagte Bajan mit etwas belegter Stimme.
Nadim maß ihn mit einem ernsten, forschenden Blick. »Du siehst aus, als hättest du eine anstrengende Reise hinter dir.«
Bajan rang mit sich, entschied sich dann aber zur Offenheit. »Ich bin auf der Flucht, Nadim.«
Dessen braune Augen weiteten sich überrascht. »Was? Du hast dich mit dem König überworfen? Erzähl, was ist geschehen?«
»Das ist zu lang und zu kompliziert, um es hier und jetzt zu erklären«, winkte Bajan ab. »Lass es uns auf später verschieben. Aber sag, sind irgendwelche Soldaten in der Nähe? Oder Mönche?«
»Deswegen also..« Nadim wurde plötzlich einiges klar. »Uns ist die verstärkte Anwesenheit der Soldaten aufgefallen, aber über die Kundschafter kamen keine Neuigkeiten zu uns. Es herrscht völlige Stille, und jetzt weiß ich auch, warum. Allerdings erreichte mich heute Morgen eine Botschaft, dass wir uns alle heute Abend an unserem Versammlungsort treffen sollen. Es gibt also Neuigkeiten.«
Bajan merkte alarmiert auf. »Vorsicht, es könnte eine Falle sein. Ich nehme nicht an, dass Jorman euch Botschaften sendet. Wo ist dieser Ort?«
»Ganz hier in der Nähe, tief im Busch. Du willst sicherlich teilnehmen, habe ich recht?« Sie wechselten einen ernsten Blick, doch dann besann sich Nadim auf seine Gastgeberpflichten. »Aber komm doch herein, du musst durstig sein. Wo ist dein Pferd?« Er blickte suchend hinter Bajan.
»Versteckt. Nadim, ich muss dich bitten, mit mir zu kommen. Das, was dich dort erwartet, darf unter keinen Umständen an andere weitergegeben werden, verstanden?« Bajan wandte sich um und lief voraus.
»Wenn du es wünschst..« Nadim kam verwundert hinter ihm her. »Was willst du mir zeigen?«
»Komm.« Ohne einen weiteren Kommentar führte Bajan ihn in die Büsche hinein.
Alles hätte Nadim erwartet, Soldaten, Waffen, sogar Schmuggelgut, aber nicht die drei Kinder, die dort ängstlich warteten. Obwohl .. ängstlich wirkten sie bei näherem Hinsehen nicht. Vielmehr waren sie wachsam, forschend, er fühlte sich unter ihren Blicken fast durchbohrt. Besonders der Junge mit dem merkwürdigen Gesicht schien ihm bis ins Innerste zu blicken.
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